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Ayeshas Schweigen

Silent Waters / Khamosh Pani
Spielfilm von Sabiha Sumar
Pakistan, Deutschland, Frankreich 2003, 99 Minuten, OmU

Inhalt
Ayesha, eine angesehene Witwe, lebt mit ihrem heranwachsenden einzigen Sohn Saleem in Charkhi, einem Ort im pakistanischen Punjab nahe der indischen Grenze. Warum sie nie selbst an den Dorfbrunnen geht, bleibt dem Kind, das mit der Mutter für sie Wasser holt, ein Rätsel. Ayesha macht sich für die Gemeinschaft nützlich, indem sie kleinen Mädchen Koranunterricht erteilt.
Außerdem hilft sie ihrer Freundin Shabnam, die Hochzeit der Tochter Hina vorzubereiten. Dass Saleem sich in die hübsche, gar nicht schüchterne Zubeida verliebt hat, gefällt Ayesha. Ihr Glück wäre vollkommen, wenn er sich auch selbst um Arbeit und eigenes Auskommen bemühen würde.
Da brechen 1979, zwei Jahre nach dem Militärputsch von General Zia ul-Haq, die Folgen des Politikwechsels über das friedliche Dorf herein. Dass Zia seinen Amtsvorgänger, Premierminister Bhutto, hinrichten lässt, ist für die Menschen unbegreiflich. Gleichzeitig tauchen zwei islamistische Werber im Ort auf, die den frommen Muslimen klar machen, wie wenig konsequent sie bisher den Vorschriften des Koran gefolgt seien. Saleem, von seinem Freund mitgenommen, schließt sich den Fanatikern an und verzichtet ihretwegen auch auf seine Liebe zu Zubeida.
Ayesha wird zunehmend von Erinnerungen an die Zeit der Staatsgründung von 1947 heimgesucht, über die – ebenso wenig wie in der Familie ihrer Freundin, die damals ihre andere Tochter, Hinas Schwester Mina, verloren hat – nicht mehr gesprochen wird. Der Beschluss der Regierung, den damals geflüchteten Sikhs den Besuch ihres Heiligtums in Charkhi zu erlauben, bringt einen Strom von Pilgern mit Turban in den Ort. Ayesha will den Fremden eine Willkommensgabe überbringen lassen, die aber den Islamisten in die Hände fällt. Einer der Sikhs, Jaswant, sucht seine Schwester Veero, die damals auf die Seite der Muslime geraten war. Der Vater hatte wie andere Männer des Dorfes beim Heranrücken der Feinde von seiner Frau und den Töchtern verlangt, in den Brunnen zu springen, um der Schändung zu entgehen. Veero aber hatte sich dem Selbstmord entzogen und war geflohen. Zutiefst schockiert erfährt Saleem, der zufällig Zeuge des ersten Zusammentreffens von Bruder und Schwester wird, dass seine Mutter und damit er selbst den verhassten "Ungläubigen" entstammt. Von den Islamisten unter Druck gesetzt, verlangt er von Ayesha eine öffentliche Absage. Auch die Dorfbewohner wenden sich von Ayesha ab. Die Frauen dürfen ihr kein Wasser mehr holen, von der Hochzeitsfeier wird sie ausgeschlossen. Die Bitte des Bruders, ihm ans Sterbebett des Vaters zu folgen, hat Ayesha abgelehnt. Als sie die Verzweiflung ihres Sohnes sieht, der gleichfalls isoliert ist, entschließt sie sich zum letzten Gang an den Brunnen.
Saleem übergibt die in einem Kästchen verschlossenen Habseligkeiten seiner Mutter aus ihrer Sikh-Vergangenheit dem Fluss am Rand des Dorfes. Als Zubeida dazukommt, schenkt er ihr das letzte Andenken, das er noch besitzt: Veeros Medaillon, das der Pilger als einzige Erinnerung an die Schwester mitgebracht hatte. – Jahre später kommt Zubeida in der Stadt Rawalpindi, in der sie jetzt lebt, an einem Schaufenster mit einem laufenden Fernsehgerät vorbei. Auf dem Bildschirm erkennt sie in dem Reden schwingenden Islamistenführer Mr. Khan Saleem wieder. Sie wendet sich ab und geht entschlossen weiter.

Auszug aus der Begründung der Jury der Ev. Filmarbeit, die den Film anlässlich seines Kinostarts in Deutschland als Film des Monats ausgezeichnet hat:
"Ayeshas Schweigen" führt auf dem Hintergrund einer Familiengeschichte in das politisch-religiöse Spannungsgebiet im Punjab. Die Geschichte seiner Hauptfigur formuliert eine eindringliche Anklage gegen religiöse Intoleranz, die sich aus den gewalttätigen Konflikten der Vergangenheit immer wieder erneuert. In der Staffelung der Zeiten wiederholen sich mit vertauschten Fronten die gleichen zerstörerischen Konstellationen. Das erste Opfer des Fanatismus sind die Frauen, denen die familiären Machtverhältnisse keine Stimme gönnen. Mit ihrem ersten, preisgekrönten Spielfilm nimmt sich die pakistanische Regisseurin Sabiha
Sumar das Recht, für diese Frauen zu sprechen.“

Der geschichtliche und politische Hintergrund
Um 1500 entstand im Punjab, dem Fünf-Strom-Land der Indus-Zuflüsse, die Religionsgemeinschaft der Sikhs (sanskrit: "Schüler"), die sich ursprünglich das Ziel gesetzt hatte, Hindus und Moslems miteinander zu versöhnen. Eins ihrer Erkennungszeichen ist das ungeschorene Bart- und Haupthaar, Letzteres wird unter einem Turban verborgen. Das 1792 gegründete Großreich der Sikhs im Punjab wurde 1849 von den Briten erobert. Mahatma Gandhis Bemühungen, die Besatzung auf dem indischen Subkontinent gewaltlos abzuschütteln, führten zwar zur Unabhängigkeit. Die blutigen Kämpfe zwischen den Religionsgruppen erzwangen aber im August 1947 die Gründung zweier getrennter Staaten: Indien und Pakistan. Dabei verläuft die Grenze mitten durch den Punjab.
Noch vor der Staatsgründung jagte die jeweilige Religionsmehrheit die Andersgläubigen in die Flucht. Die Umsiedlungen wurden mit großer Brutalität durchgeführt. Allein von November 1946 bis Mai 1947 starben im Punjab 4000 Menschen. "Die Hindu- und Moslem-Gemeinschaften haben in den schlimmsten Orgien der Gewalttätigkeit gewetteifert", erklärte der indische Kongresspräsident Prof. J.B. Kripalani am 15. Juni 1947: "Ich habe Brunnen gesehen, in den sich Frauen mit Kindern - 107 Personen im ganzen - stürzten, um ihre Ehre zu retten. An einem anderen Ort, einem Ort der Verehrung Gottes, wurden 50 junge Frauen aus dem gleichen Grunde von ihren Männern getötet." Die von Kripolani bezeugten "grauenhaften Erfahrungen" veranlassten den Kongress, sich von Gandhi loszusagen und der Teilung zuzustimmen. (Quelle: Louis Fischer, Das Leben des Mahatma Gandhi, 1955)
Nach der gemäßigten Regierung Zulfikar Ali Bhuttos führte General Zia ul-Haq (als Verbündeter der Westens) ab 1977 ein streng islamisches Regime nach der Rechtsordnung der Scharia ein, das unter anderem den Tod für Gebetsverweigerung, Abkehr vom Islam und Steinigung für außerehelichen Geschlechtsverkehr vorsah. 1980 setzte er unter Kriegsrecht Gesetze durch, die Frauen (z.B. nach Vergewaltigung) noch rechtloser machten. Nach Zias Tod 1988 bei einem Flugabsturz kam als erste Frau Bhuttos Tochter Benazir an die Macht, allerdings nur bis 1990 und noch einmal von 1993 bis 1996. 1991 setzte ihr zweimaliger Nachfolger und Widersacher Nawaz Sharif erneut die Scharia in Kraft. Sharif wurde 1999 von General Pervez Musharraf gestürzt (und später zu lebenslanger Haft verurteilt).
Heute hat die Islamische Republik Pakistan ca. 190 Millionen Einwohner überwiegend muslimischen Glaubens, mehr als die Hälfte lebt im Punjab. Die städtische Bevölkerung ist mit 37 Prozent relativ gering. Die Analphabetenrate liegt bei 56 Prozent und ist vor allem auf dem Land hoch. Vor den Wahlen 2002, bei denen Musharraf bestätigt wurde, versprach er, eine Frauenquote einzuführen. Die Verwaltung widersetzt sich jedoch. Das UN-Abkommen gegen die Diskriminierung von Frauen ist bisher nicht umgesetzt worden. In den Städten haben die Frauen größere Bildungschancen und mehr Freiheit, auf dem Land bleiben sie nach wie vor auf das Haus beschränkt.

Würdigung und Kritik
Mit "Ayeshas Schweigen" hat die bis dahin als Dokumentarfilmerin arbeitende Sabiha Sumar als erste Frau ihres Landes einen Spielfilm gedreht. 1961 in Karachi geboren, studierte sie von 1980 bis 1983 Film und Politische Wissenschaften in New York, danach 1984/85 internationale Beziehungen an der Universität Cambridge. Bereits ihre ab 1987 fürs Fernsehen gedrehten Dokumentarfilme beschäftigten sich mit der politischen Situation in Pakistan, speziell der Frauen, so auch 1999 "Don't ask why - Frag nicht warum", das Porträt einer 17jährigen Muslimin, und 2003 "For a Place under the Heavens" (ZDF/arte) über den Prozess der Islamisierung in Pakistan.
Ursprünglich sollte "Ayeshas Schweigen" als Dokumentarfilm über die in Pakistan und Indien verschleppten Frauen zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit entstehen. Sabiha Sumar machte Interviews mit betroffenen Frauen und erfuhr dabei "fürchterliche Geschichten". So brachten Repatriierungsteams in beiden Ländern Frauen zurück, indem sie sie gegen ihren Willen von ihren neuen Familien trennten und "nach Hause" schickten, wo sie als "Entehrte" häufig nicht mehr aufgenommen wurden. Keine dieser traumatisierten Frauen war bereit, vor die Kamera zu treten. Unter diesen Umständen entschloss sich Sabiha Sumar, die Ergebnisse ihrer Recherchen in einen Spielfilm einzubringen. Bis auf wenige Darsteller bezog sie die Anwohner aus dem Grenzland ein und schulte sie in Workshops. In der indischen Schauspielerin Khirron Kher fand sie eine religiös aufgeschlossene Seelenverwandte, die sie an ihre Mutter erinnerte, und gab ihr die Rolle der Ayesha/Veero ("Veero = mutige Frau").
Die für Oktober 2001 geplanten Dreharbeiten mussten nach dem Anschlag vom 11. September verschoben werden. Die darauf einsetzende intensive Auseinandersetzung mit dem fanatischen Islamismus floss erkennbar in den Film ein.
Sabiha Sumar sieht sich ausdrücklich "nicht als Regisseurin für Frauen": "Vielmehr betrachte ich mich als Regisseurin, die Geschichten erzählt, die zu einem besseren Verständnis unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart beitragen, so dass wir unsere Zukunft besser bewältigen".
"Ayeshas Schweigen" ist ein leiser Film mit poetischen Momenten, die durch ruhige Landschaftsaufnahmen betont werden. Zwei Handlungsstränge sind miteinander verknüpft: die Geschichte von Ayesha/Veero und die Entwicklung von Saleem vom trägen Jugendlichen zum aktiven Islamisten. – Die Zeitebenen von 1947 und 1979 sind deutlich unterschieden: Ayeshas Erinnerungen an die väterliche Aufforderung zum Selbstmord am Brunnen, ihre Flucht, die Gefangennahme und das erste Zusammentreffen mit ihrem späteren Mann brechen wie visionäre Heimsuchungen (in schwarzweiß) in ihren aktuellen Alltag ein – eine psychologisch überzeugende filmische Umsetzung von traumatischen Erlebnissen. Der Kontrast wird durch die liebevolle Darstellung des dörflichen Lebens, auch der fröhlichen Hochzeitsfeier, verstärkt. Wenn die verzweifelte Mutter, die nicht mehr weiß, welches der ihr bestimmte Himmel ist - der der Muslime oder der der  Sikhs - dann doch noch den Sprung in den Brunnen nachholt, bleibt die Kamera in der Totalen taktvoll fern.
Auch sonst sind "Action"-Effekte vermieden. Der Demonstrationszug, bei dem die Beteiligten Knüppel und hasserfüllte Parolen gegen die Sikh-Pilger schwingen, wirkt bedrohlich, artet aber nicht in Tätlichkeiten aus: Die Gewalt kommt schleichend daher. Bilder von lebendiger Gemeinschaft und krasser Isolierung sind gegeneinander geschnitten, die Hektik der Stadt Rawalpindi gegen den ruhigen Atem dörflicher Gelassenheit. Sparsam verwendete, melancholische Musik wechselt mit Augenblicken der Stille, der häufig erklingende Ruf des Muezzin gibt dem Geschehen eine religiöse Farbe.
Sabiha Sumar hat einen Film gedreht, der starke Frauen und schwache Männer zeigt (wobei zu fragen wäre, ob der Islamist Raschid ein "starker" Mann ist oder nur zu sein vorgibt). Sie demaskiert die eigene Gesellschaft und zeigt dabei, welche Chancen eine islamische Welt versäumt, wenn sie die Frauen unterdrückt, statt ihre Stärke zu nutzen. Dass ihr nur durch ausländisches, auch deutsches Geld ermöglichter Film in den vom Mainstream beherrschten pakistanischen Kinos nicht gezeigt würde, war ihr bewusst. Nachdem die pakistanische Filmkultur unter Zia "praktisch ausgelöscht" worden war (Sumar), wusste sie, dass sie Vorstellungen selbst organisieren musste, sollte ihr Film in Pakistan sichtbar sein. So bereiste sie mit einem Flying Cinema vor allem auch ländliche Regionen, um ihren Film in Dörfern und vor den zahlreich vorhandenen Frauengruppen des Landes zu zeigen.

Pakistans Filmindustrie
Bereits während der britischen Kolonialzeit existierte auf dem Gebiet des heutigen Staates Pakistan eine Filmindustrie: In Lahore waren schon Mitte der 1920er Jahre mehrere Produktionsfirmen ansässig, und die Stadt entwickelte sich im Folgenden zum Zentrum der Punjabi-sprachigen Filmindustrie Britisch-Indiens. Nach der Unabhängigkeit und der Teilung des Landes in die Staaten Pakistan und Indien, in deren Folge auch berühmte Akteure der Filmindustrie in Bombay, wie die Schauspielerin und Sängerin Noor Jahan, nach Pakistan auswanderten, wurde Karachi zur wichtigsten Filmstadt des neuen Landes. Hier entstanden neben Produktionen in der Regionalsprache Sindhi fortan vor allem Filme in der neuen Nationalsprache des jungen Staates: dem von den Migranten aus der nordindischen Gangesebene mitgebrachten Urdu.

1948 kam mit „Teri Yaad“ der erste pakistanische Film in die Kinos.

Die 1960er- und 1970er-Jahre gelten als das goldene Zeitalter des pakistanischen Films. Die Menschen strömten in die Kinos, um die großen Stars jener Jahre wie Mohammad Ali, Waheed Murad, Zeba oder Sabiha Khanum auf der Leinwand zu sehen – vor allem in den immens populären sogenannten Urdu Socials – Urdu-sprachige Filme mit zeitgenössischen Themen. In ihrer Machart orientierten sich die Filme an südasiatischen Erzähl- und Performancetraditionen und enthielten somit auch Gesang und Tanz. In dieser Blütezeit gab es im Land rund 750 Lichtspielhäuser, und die pakistanische Filmindustrie produzierte jährlich im Schnitt  200 Filme.
Ende der 70er-Jahre begann jedoch der langsame Niedergang des pakistanischen Kinos. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Machtübernahme Zia-ul-Haqs im Jahr 1977 und die darauffolgende Islamisierung des Landes. Unter Zia trat eine verschärfte Zensur in Kraft, die das filmische Schaffen sehr einengte; zudem wurde die Filmindustrie stark besteuert und Produzenten mussten nun, um ihrer Tätigkeit nachgehen zu dürfen, einen Universitätsabschluss vorweisen, den viele nicht besaßen. Dies alles führte dazu, dass die Filmindustrie in Karachi mehr oder minder zum Erliegen kam. Während die Urdu-sprachigen Filme langsam aus den Kinos verschwanden, erblühte das Filmschaffen in Lahore und Peshawar, wo Filme in den Regionalsprachen Panjabi bzw. Pashto produziert wurden und werden. Die vergleichsweise billig produzierten, actionlastigen B-Movies waren zunächst sehr erfolgreich, doch die Gewalt in den Filmen schreckte das Mittelschichtspublikum ab. Statt ins Kino zu gehen, zog dieses nun vor, sich zu Hause Hollywoodfilme oder illegale Videokopien indischer Filme anzusehen.
Die sinkenden Zuschauerzahlen hatten die Schließung vieler Lichtspielhäuser zu Folge; Anfang der 1990er Jahre waren im ganzen Land nur noch 100 Kinos im Betrieb. Dies wirkte sich wiederum negativ auf die Qualität und die Anzahl der Produktionen aus – Ende der 1990er Jahre wurden jährlich nur noch rund 80 Filme in Pakistan hergestellt.
Zur Millenniumswende lag die einst so produktive Filmindustrie Pakistans im Prinzip fast vollständig brach.
Anfang des neuen Millenniums kam jedoch wieder etwas Bewegung in die pakistanische Filmindustrie. Unabhängige FilmemacherInnen wie Sabiha Sumar wagten einen Neuanfang und versuchen, trotz fehlender Infrastruktur, fehlendem Know-How, fehlenden Fachkräften und einer misstrauischen, ausbremsenden Politik, qualitativ hochwertige Filme jenseits der traditionellen Mainstreamkinos zu realisieren. Ihr Bestreben war und ist es, eine neue Filmkultur in Pakistan zu etablieren.
Sabiha Sumar, deren erster Spielfilm "Khamosh Pani" 2003 einer der ersten Filme dieser neuen Welle pakistanischer Produktionen war, nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein. Schon in ihren Dokumentarfilmen nahm sie die gesellschaftspolitischen Entwicklungen ihres Landes unter die Lupe und überträgt dieses genaue Beleuchten der Dynamiken und Wirkkräfte in der pakistanischen Gesellschaft auch auf ihre Spielfilme. Doch nicht nur bezüglich der Themen und Inhalte ihrer Filme beschreitet sie neue Wege. Sie ist darüber hinaus bemüht, das der Industrie verloren gegangene Know-How wiederzugewinnen und sieht ihre Filmsets auch als eine Art Ausbildungsplatz für junge pakistanische Filmschaffende. Bereits während der Produktion von "Khamosh Pani" organisierte Sumar mehrwöchige Workshops mit den ausländischen Leitern der unterschiedlichen künstlerischen Ressorts  – "Khamosh Pani" wurde mit ausländischen Geldern finanziert – für die pakistanischen Crew-Mitglieder, um diese in der Organisation eines Filmdrehs zu schulen und sie in die Techniken, Abläufe und Arbeitsbereiche- und weisen der verschiedenen Ressorts einzuweisen.
Seit diesen ersten Bemühungen, der pakistanischen Filmindustrie wieder neues Leben einzuhauchen, haben diverse Entwicklungen dazu geführt, dass sie sich mittlerweile wieder im Aufschwung befindet. Zum einen wurde 2005 nach 40 Jahren das Importverbot für indische Filme aufgehoben. Es war 1965 nach dem Zweiten Indisch-Pakistanischen Krieg erlassen worden, auch, um die einheimische Filmproduktion zu schützen. Doch waren indischen Filme trotz des Verbots nie aus Pakistan verschwunden und illegale Raubkopien der neusten Blockbuster aus Bombay weit verbreitet. Mit den indischen Filmen kehrte nun auch das pakistanische Mittelklassepublikum wieder in steigender Zahl in die Kinos zurück. Dies gab der einheimischen Filmindustrie Auftrieb:  Die Infrastruktur verbesserte sich, neue Kinos eröffneten und Kinobesitzer und Filmverleiher konnten ihre Gewinne in die Produktion von Filmen investieren. Zudem hatte das pakistanische Fernsehen qualitativ hochwertige Drama-Serien hervorgebracht, die von Publikum und Kritik gleichermaßen goutiert wurden - nicht nur in Pakistan selbst, sondern auch in den vielen Ländern, in die sie exportiert wurden, wie die des Nahen Ostens oder Indien.
Die Macher dieser Serien – Regisseure und Autoren, aber auch Stars wie Fawad Khan oder Mahira Khan – wechselten ins Kinofach und brachten ihre Expertise und Erfahrung in die wieder erblühende Filmindustrie mit ein.
Heute sind wieder regelmäßig pakistanische Produktionen in den mittlerweile wieder über 250 Kinos des Landes zu sehen – und zwar sowohl Mainstream-Filme als auch kleinere Independent-Produktionen, so dass in den letzten Jahren so unterschiedliche Filme wie die sozialkritischen Dramen des Regisseurs Shoaib Mansoor „Khuda Ke Lie“ (2007), "Bol" (2011) und "Verna" (2017) oder Sabiha Sumars "Good Morning Karachi" (2013), der Slasher-Film „Zibahkhana“ (2007), der Actionthriller „Waar“ (2013) oder die Komödie "Jawani Phir Nahi Ani" (2015) erfolgreich im Kino liefen.
Zwar werden nach wie vor auch noch Filme in den Regionalsprachen Punjabi, Pashto oder Balochi gedreht. Doch die meisten Filme des Revivals des pakistanischen Kinos sind wie in seinem goldenen Zeitalter auf Urdu.

Die Filmemacherin Sabiha Sumar
Sabiha Sumar, geboren 1961 in Karachi, Pakistan, studierte zwischen 1980-1985 Film und Politische Wissenschaften am Sarah Lawrence College in New York und Internationale Beziehungen an der Universität Cambridge. In ihren Filmen und mit ihrer Produktionsfirma Vidhi Film hat sie sich besonders mit der Situation von Frauen in islamischen Gesellschaften auseinandergesetzt. Ihr erster abendfüllender Spielfilm „Khamosh Pani - Silent Waters" (2003) wurde beim Filmfestival Locarno mit dem Goldenen Leoparden als bester Film ausgezeichnet; es folgten 17 weitere Preise bei internationalen Festivals. Sabiha Sumar ist auch als Produzentin und in der Filmausbildung tätig. Der von Ihr produzierte Film „Saving Face“ von Daniel Junge und Sharmeen Obaid-Chinoy wurde 2012 mit dem Oscar für Kurzdokumentarfilme und dem Emmy Award als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.

Filmographie (Auswahl):
1989 Who Will Cast The First Stone (Dokumentarfilm)
1992 Where Peacocks Dance (Dokumentarfilm für Channel Four Television)
1994 Of Mothers, Mice And Saints (Dokumentarfilm).
1996 Suicide Warriors (Dokumentarfilm).
1999 Frag nicht warum (Dokumentarfilm / Reihe Mädchengeschichten: ZDF/3Sat)
2003 Silent Waters (Khamosh Pani / Ayeshas Schweigen) (Spielfilm)
2007 Dinner with the President (Dokumentarfilm)
2013 Good Morning Karachi (Spielfilm)
2017 Azmaish. A Journey through the Subcontinent (Dokumentarfilm)

Didaktische Hinweise
Die zweigeteilte Handlung des Films macht "Ayeshas Schweigen" zur Diskussion mit verschiedenartigen Gruppen besonders geeignet. Ayeshas und Zubeidas Geschichte stellt Frauen vor die Frage nach der weiblichen und mütterlichen Rolle in der von Männern geprägten Gesellschaft. Saleems Werdegang vom aufmüpfigen Sohn zum religiösen Fanatiker und das Verhalten seiner männlichen Umwelt fordert heranwachsende junge Männer wie Väter heraus. Schließlich wäre auch zu erörtern, auf welche Weise religiöser Fundamentalismus und Rassismus "wie Rauch durch die Ritzen" (Sumar) in eine liberale Gemeinschaft eindringt. Der wohl für die meisten Zuschauer hierzulande fremdartige Hintergrund der Filmgeschichte dürfte dabei das Gespräch erleichtern. In einem weiteren Schritt wäre zu fragen, wieweit die Ergebnisse nicht auch auf unsere eigene Gesellschaft zu übertragen sind.

  1. Ayesha hat sich in ihr Schicksal gefügt. Fragen nach ihrer Vergangenheit, selbst nach ihrem verstorbenen Mann übergeht sie mit Schweigen. Das bescheidene gute Leben, wohl aufgehoben in der Dorfgemeinschaft, möchte sie auch für ihren Sohn und die Schwiegertochter sichern. Als die Vergangenheit in Gestalt des Bruders bei ihr einbricht, ist die Zweisamkeit von Mutter und Sohn allerdings schon in ratlosem bzw. feindseligem Schweigen erstarrt. Die todbringende Isolierung durch die Gemeinschaft nach dem unfreiwilligen "Outing" kann auch die verständnisvolle Zubeida nicht verhindern. Die junge Frau erweist sich als die Stärkere: Mutig entzieht sie sich den Zumutungen ihrer Umwelt. Sie will sich aus eigener Kraft und nicht über den Ehemann verwirklichen. Konsequent geht sie ihren Weg.
    Fragen: Hat Ayesha im Umgang mit ihrem Sohn Fehler gemacht? (Sie hat über seinen Kopf hinweg Pläne geschmiedet und seine Abwehr ignoriert.) Gab es eine Alternative zum Selbstmord? Warum verweigert sie sich einem öffentlichen Bekenntnis zum Islam? Was hindert sie, dem Beispiel Zubeidas zu folgen? – Findet Zubeida die richtigen Worte, um Saleem ihren Standpunkt zu erklären? Hat sie darüber nachgedacht, wieweit sich ihre Pläne (Collegebesuch und Job in der Stadt) mit der herkömmlichen männlichen Einstellung im Dorf vertragen? Hat diese Liebe eine Chance? Was hätten die Frauen des Dorfes tun müssen, um Ayesha und Zubeida zu halten?
     
  2. Bis zum Auftreten der islamistischen Werber könnte man Saleem als "Loser" ansehen: Der 17jährige verschläft den halben Tag, mag keine Arbeit annehmen, sieht keine Notwendigkeit, sich öffentlich zu Zubeida zu bekennen, lässt sich von seinem cleveren Freund mitziehen. Erst im Kontakt mit Raschid, dem Radikaleren der beiden Fremden, eröffnet sich ihm eine Perspektive.
    Als aktiver Streiter für den "wahren Islam", auch wenn er nur Handzettelverteiler ist, gewinnt er eine öffentliche Rolle, Bedeutung und Selbstbewusstsein. Der Rückhalt in der Gruppe gibt ihm Mut zur Konfrontation mit der Mutter; durch die Isolierung gerät er jedoch in einen Strudel der Gefühle. Mit der "Fluss-Bestattung" der mütterlichen Andenken bricht Saleem alle Brücken hinter sich ab.
    Fragen: Hat im Leben eines solchen jungen Mannes eine Frau überhaupt noch einen Platz? Welche Rolle spielt der fehlende Vater? Warum lässt sich Saleem von seinem Freund beeinflussen, nicht aber von dem Mädchen, in das er verliebt ist? Worin unterscheidet sich im Film Frauensolidarität von Männerfreundschaft? Warum schießt Saleem auf die in den Fluss geworfenen Blätter, als ihn die Leute nicht mehr beachten? Was hindert ihn, sich zu seiner Mutter zu bekennen, statt von ihr ein öffentliches Bekenntnis zu verlangen? Hätte ihre Einwilligung ihm tatsächlich geholfen?
     
  3. Über den eindrucksvoll inszenierten Familiengeschichten wird leicht übersehen, welch gründliche Analyse des politischen Fundamentalismus Sabiha Sumar mit ihrem Film vorgelegt hat. In den beiden Werbern zeichnet sie unterschiedliche Vorgehensweisen: Der Eine versucht erklärtermaßen, die Menschen zu gewinnen, indem er an ihrem Leben, auch an ihren Genüssen teilnimmt. Der Andere stößt sie mit seinem Radikalismus vor den Kopf, bedroht sie unter Hinweis auf die politische Macht, der er dient, versetzt sie mit Parolen in einen Gemeinschaftsrausch und verheißt ihnen Belohnung im Dies- und Jenseits.
    Mit der Autorität des Fremden aus der Stadt setzt er seine Auslegung des Islam absolut: Um die Frauen zu schützen, muss die Schulmauer erhöht, müssen die Töchter vom Vater abgeholt, dürfen die ungläubigen Pilger nicht geduldet werden. Raschid beherrscht auch die eigene Gefolgschaft mit Zuckerbrot und Peitsche: Er wirbt Saleem an, nimmt ihn nach Rawalpindi mit, verlangt das Bekenntnis seiner Mutter und droht ihm unter dem Vorwand, ihn sonst nicht schützen zu können (vor wem?), den Ausschluss an.
    Fragen: Was sind die Kennzeichen des Fundamentalismus? Gibt es Gemeinsamkeiten mit anderen Formen des Fundamentalismus (etwa im Nationalsozialismus, im Christentum)? Wann beginnt im Film die islamistische Infiltration – warum hört die fromme Dorfgemeinschaft auf die Fremden? Wie unterscheiden sich die Männer des Dorfes in ihrer Reaktion auf die Werber (der Friseur, der Postbeamte)? Warum haben Raschids Parolen mehr Erfolg als die erste Rede seines Weggefährten? Sind Witze über eine andersartige Gruppe harmlos ("Das Lieblingstier der Sikh?" "Läuse.") Inwieweit gleicht der nationalistische Rassismus des Films gegen die Sikh-Pilger der antijüdischen Propaganda des Nationalsozialismus? Wäre eine ähnlich geartete Kampagne – etwa gegen Türken – auch bei uns denkbar? Wie kann man sich davor schützen? Wie muss ein Mensch charakterlich beschaffen sein, um gegen solche Beeinflussung immun zu sein?
     
  4. In "Ayeshas Schweigen" ist der politische Fundamentalismus mit einem religiösen Radikalismus verknüpft, der kein Abweichen von der für verbindlich erklärten Auslegung des Islam erlaubt. In der Gestalt der Veero/Ayesha, der keine andere Wahl als der Religionswechsel bleibt, stellt Sabiha Sumar diese Auffassung ganz bewusst in Frage. In einer Schlüsselszene werden Saleem und Raschid zufällig zu Zuhörern, als Ayesha die kleinen Mädchen im Koran unterweist. Auf die Frage einer Schülerin, ob denn nur Muslime in den Himmel kämen, antwortet sie: "Nein, jeder, der Gutes tut. Gott vergibt, wem er will."
    Das ist das Glaubensbekenntnis der Zwangskonvertierten, die sich am Ende beim Sprung in den Brunnen in die Hände eines Gottes wirft, von dem sie mehr Barmherzigkeit erwartet als von den Menschen. Es ist aber auch das Credo der Regisseurin, die der Glaubensrichtung der Sufismus folgt, einer betont toleranten Richtung des Islam: "Es gibt keinen anderen Gott als die Summe aller Gottesauffassungen" ("There is no God but the sum of all Gods"). Für die Hauptdarstellerin Kirron Kher war dies sogar der Grund, im Film mitzuwirken: "Ich habe mich sehr stark mit der Rolle der Ayesha/Veero identifiziert auf Grund ihres Glaubens an einen Gott, der allen gegenüber gnädig ist, ungeachtet ihrer Religion" (Verleih-Mitteilung).
    Sabiha Sumar hat in einem Schweizer Interview eingeräumt, dass es wohl immer intolerante fundamentalistische Randgruppen geben werde. Ihr Film habe jedoch auf das Risiko einer fundamentalistischen Machtübernahme hinweisen wollen. Diese Gefahr sei jetzt sehr groß, auch im Westen und zwar auf Grund der weltweiten Wirtschaftskrise: "Alle handeln aus einem Gefühl der Verunsicherung und der Angst, und das ist die hohe Zeit der Politiker, die Religion als Werkzeug gegen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit benutzen." (Der Bund v. 18.8.2003)
    Fragen: Wenn diese Einschätzung zutrifft – ist das Christentum noch stark genug, einem Missbrauch der Religion entgegenzutreten? Wieweit behindern Angst, Unsicherheit und mangelnde Kenntnis des eigenen Glaubens den interreligiösen Dialog? Ist ein aufgeklärter Islam vorstellbar? Wie könnte die Zusammenarbeit von Christen und Muslimen gegen einen politisch/religiös motivierten Fundamentalismus im Alltag aussehen? Wo wäre die Toleranzgrenze erreicht?
    In einer islamisch geprägten Gesellschaft wie in Pakistan, zumal auf dem Land, haben die Belange der Gemeinschaft Vorrang vor der Selbstverwirklichung des Individuums. Gegen eine damit verknüpfte männliche Dominanz begehren die Frauen zunehmend auf. Sie holen damit nach, was die europäische Frauenbewegung auf dem Weg zur Gleichberechtigung längst begonnen hat. Damit schließt der Film "Ayeshas Schweigen". Er legt aber auch den Gedanken nahe, dass der Kampf gegen einen aus dem Fundamentalismus erwachsenden Terror nur von Männern und Frauen gemeinsam gewonnen werden kann.

Literaturhinweise und Links
Pakistan. Land der Extreme
Katja Mielke und Conrad Scheffer, C. H. Beck, 2013

Dossier (2014): Die Teilung Britisch-Indiens 1947. Blutiger Weg in die Unabhängigkeit;
Autor: Prof. Michael Mann
http://www.bpb.de/internationales/asien/indien/44402/die-teilung-britisch-indiens

Medienhinweise

Good Morning Karachi
Regie: Sabiha Sumar, D/Pakistan 2012, 85 Min., Spielfilm, OmU
Bezug DVD: www.ezef.de

Frag nicht, warum (Don’t ask why)
Regie: Sabiha Sumar, D/Pakistan 1999, 30 Min., Dokumentarfilm;
Teil der Thematischen DVD „Anna, Amal und Anousheh - Mädchen zwischen Rollenmustern und Selbstbestimmung“, (insgesamt 8 Filme)
Bezug DVD: www.ezef.de

Autorin Haupttext: Dorothea Schmitt-Hollstein
Autorin ‚Pakistans Filmindustrie‘: Sonja Majumder
Redaktion: Bernd Wolpert

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