Arbeitshilfe

Parallelen

Film: 

Kurzspielfilm von Sawat Ghaleb
BRD 1995, 6 Minuten, S/W

Inhalt

Eigentlich passiert gar nicht viel. In einem Park, wo Familien spazieren gehen, sitzen sich zwei einsame Menschen gegenüber: ein älterer Herr mit Hund - wie sich später herausstellt etwas gehbehindert - und ein schwarzhaariger junger Mann. Sie scheinen sich zu beobachten und werden plötzlich in eine gewisse Spannung versetzt. In ihrer Phantasie stellen sie sich jeweils das Gegenüber als extrem aggressiv vor. Der ältere Herr sieht den jungen Mann den Hals seiner Bierflasche abschlagen und auf sich zu stürzen. Der junge Mann erfährt den Hund als auf sich gehetzt mit bleckenden Zähnen. Und dann ist alles so plötzlich vorüber, wie’s entstand: Zuerst steht der Ältere auf und humpelt davon. Er geht in seine kleine Sozialbauwohnung. Dann steht der Jüngere auf und geht über die Gleise durch eine Absperrung in ein Wohnheim mit Mehrbettzimmer. Beide schalten bei sich den Fernseher an und schauen leicht lächelnd dasselbe Programm, den Comicfilm „Tom und Jerry“.

Zum Film

Dieser Kurzfilm, mit dem der kurdische Filmemacher Sawat Ghaleb seine Zulassung zur Filmakademie erhalten hat und in der er selber eine der Hauptrollen spielt, kommt völlig ohne Dialog aus. Durch den Verzicht auf Sprache bleibt uns allein die filmische Gestaltung mit ihrer packenden und überaus starken symbolischen Bildsprache für unsere Interpretation. Aus der Suche nach dem Sinngehalt und den Hintergründen ergeben sich mit den Zuschauern verschiedenste Gesprächsanlässe (vgl. ‘Einsatzmöglichkeiten’).
Auf der durch den Titel vorgegebenen Suche nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den Männern entdeckt man, dass sie beide Außenseiter der Gesellschaft sind: der eine als gehbehinderter Alter, der andere offensichtlich als Asylbewerber in einer Massenunterkunft hinter’m Schlagbaum an den Gleisen. Es verbindet sie ihre Einsamkeit in dieser Gesellschaft, die sie mehr mit ihren Projektionen als mit der Realität in Verbindung sein läßt. Bei all solchen Überlegungen aber bleibt der Zuschauer auf seine aufmerksame Beobachtung angewiesen, wodurch es auch zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen kommen kann. Manche mögen z.B. die Projektionen der Aggression des einen über den anderen in der Parksituation zunächst für real halten. Da hilft es, auf die bildlichen Mittel hinzuweisen, mit denen der Filmemacher die zwei Realitätsebenen darstellt: Konzentration auf den verkniffenen Blick, Bildüberlappungen, andere Kleidung (weißes Hemd beim einen, Hut beim anderen).
Wie nun kommen diese beiden Personen, die sich nicht kennen und nichts miteinander zu tun haben, als sich zufällig zur gleichen Zeit auf zwei Parkbänken gegenüberzusitzen - wie kommen diese beiden dazu, solche Phantasien zu entwickeln? Beide scheinen Außenseiter der Gesellschaft zu sein, wahrscheinlich selbst ausgegrenzt und diskriminiert, und damit auch verunsichert, kontaktarm und vereinsamt. Ihre eigenen Erfahrungen projizieren sie durch Angstphantasien auf andere, wie wenn dadurch ihre eigenen Verletzungen hinfällig würden oder gerächt wären (vgl. Geschichte „Ein Fall von Ausländerfeindlichkeit“ - s.u.). Feindbilder brauchen keine reale Grundlage, sondern reflektieren vor allem die Probleme der eigenen Situation, die eigenen Ängste. So scheinen sich auch beide über denselben TV-Film zu amüsieren, wo es wiederum um Brutalität und Unterdrückung geht - hier in Form eines Katz-und-Maus-Spiels mit gewitzten Einlagen des Kleinen gegen den Großen. Als Zuschauer fragt man sich, ob dies ihre einzige ‘positive’ Kommunikation am Tag gewesen ist.

Einsatzmöglichkeiten

Der Film eignet sich aufgrund seiner Kürze und seines offenen Gehalts sehr gut als Anspielmedium innerhalb und außerhalb von Schule und Gemeinde für intensive Diskussionen mit Jugendlichen und Erwachsenen über Feindbilder, Ausländerfeindlichkeit und Marginalisierung in unserer Gesellschaft (vgl. Geschichte aus „Weltmission `90“ - s.u.). Sie ist geeignet, auch eigene Erfahrungen von Diskriminierung anzusprechen, weil man sie in den filmischen Protagonisten so offenkundig gespiegelt sieht und sie darin thematisiert werden können. Dadurch lässt sich der Film nicht nur zum interkulturellen Lernen, sondern auch mit alten Menschen, Behinderten oder in altersgemischten kommunalen Konfliktfeldern einsetzen. Das Hineinversetzen in die beiden Hauptpersonen und ihre Gedanken und Gefühle kann Sensibilisierung steigern helfen.
Darüber hinaus kann die besondere filmische Gestaltung Gegenstand der Analyse sein (z.B. in Filmgruppe, Kunstunterricht, Foto-AG o.ä.).

Vorschläge für Vorgehensweise:

  • Ohne Kommentar vorführen; sich den Inhalt wiedergeben lassen; Unklarheiten klären – evtl. auch durch nochmaliges Anschauen;
  • Vorführung unterbrechen, bevor sie von der Bank aufstehen; von Teilnehmern weiterspielen lassen in verschiedenen Versionen; dann erst zu Ende laufen lassen und die verschiedenen Ergebnisse miteinander vergleichen;
  • Geschichte „Ein Fall von Ausländerfeindlichkeit“ (s.u. - zunächst ohne die Reflexionen der Autorin) lesen und in die Diskussion einbeziehen; durch Rollenspiel einzelne Aspekte vertiefen (z.B. durch eine Szene, wie Frau M. zu ihren ehemaligen Nachbarn zu Besuch geht und dort von ihrer aktuellen Situation erzählt); ähnliche eigene Erlebnisse zusammentragen; Lösungen für die Bedrohungsängste erörtern; Lösungen in Rollenspielen erproben und erörtern (z.B. ein Vermittlungsgespräch zwischen der Nachbarin, Frau M. und Herrn P. gestalten).

Auswertungsfragen:

  • Was ist eigentlich passiert? Beschreibt/Beschreiben Sie das Geschehen im Film.
  • Was wollte der Produzent mit diesem Film ansprechen?
  • Welche gestalterischen filmischen Mittel hat der Filmemacher benutzt?
  • Welche Themen und Fragestellungen ergeben sich?
  • Wie konnte es zu den Wahnvorstellungen bei den beiden Menschen kommen?
  • Worin gleichen /unterscheiden sich die beiden Protagonisten? („Parallelen“!)
  • Wem könnte so etwas passieren?
  • Welche Menschen haben am meisten Angst (begründet/unbegründet)?
  • Kennt Ihr/Kennen Sie eigene vergleichbare Beispiele?
  • Sammeln Sie spontane Äußerungen zum ersten Teil der Geschichte.
  • Vergleicht/Vergleichen Sie die Aussagen des Films mit denen in der Geschichte.
  • Wie ‘funktionieren’ Feindbilder?
  • Welche Feindbilder existieren in Eurer/Ihrer Umgebung?
  • Kann man die angesprochenen Ängste abbauen? Was könnten die Konsequenzen bei Verlust bestimmter Feindbilder sein?

Geschichte:
Ein Fall von Ausländerfeindlichkeit
von Angelika Obert

Meiner Nachbarin, Frau M., geht es schlecht. Sie kann nicht mehr schlafen, schon seit Monaten nicht. Schuld daran sind die Polen über ihr: Nacht für Nacht trampeln sie herum, feiern Orgien, verschieben Waren, manchmal sind sogar Kinder dabei, „dass die das auch schon lernen!“ Frau M. graust es.
Einmal hat sie mit dem Besen gegen die Decke geklopft, da ist der junge Mann heruntergekommen und hat geklingelt. Natürlich hat sie nicht aufgemacht. Tagsüber, das ist das Übel, öffnen die Polen nicht, verhalten sich mucksmäuschenstill. Der Gasmann war da, sogar die Polizei, aber die machen ja nicht auf. Frau M. weint. „Ich kann nicht mehr.“
Die Wohnung des polnischen Nachbarn grenzt direkt an mein Arbeitszimmer. Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, als ich für etwa zehn Minuten den Fernseher gehört habe, sonst war es immer ruhig. Ich weiß, dass Herr P. oft Gäste aus der Heimat hat, manchmal seine Eltern, manchmal Freundinnen, sie kommen zum Einkaufen. Sehr zurückhaltend grüßen sie im Treppenhaus, aber nie unfreundlich. Ich weiß auch, dass manchmal ein oder zwei Männer da sind, die Arbeit suchen und dass es nicht ganz durchschaubar ist, was Herr P. macht. Gestört hat mich das alles noch nie, eher amüsiert.
Aber Frau M. weint, liegt schlaflos und hört wirklich, so wie sie es erzählt, ganze Bataillone polnischer Stiefel auf ihren Nerven herumtrampeln.
Sie lebt als Rentnerin, allein seit einem Jahr in dieser frisch renovierten Wohnung, deren Miete für sie zu teuer ist, wo sie auch gar nicht hinwollte. Man hat sie hierher „umgesetzt“, ihr altes Haus, vier Busstationen weit weg, soll nun saniert werden.
Dort hat sie Jahrzehnte zugebracht mit Ofenheizung und ohne warmes Wasser, aber als Hauswartsfrau doch eine Königin. Sie kannte alle und wusste alles. Mit den Türken, das passte ihr zwar auch nicht, doch: „Mit denen konnte man wenigstens reden“, sagt sie heute. Die kleine Straße mit den vielen türkischen Kindern, die Eckkneipe, das baufällige Haus, das war ihre Welt. Niemand kam an ihr vorbei.
Wo sie jetzt wohnt, rauschen nur Autos vorbei, sonst spielt sich nichts ab auf der Straße. Sie hat zwar warmes Wasser, aber kein Geld mehr für die Kneipe, und überhaupt, sie kennt ja niemanden.
Gegen die Ausländerfeindlichkeit von Frau M., kann man einwenden, ist ja bloß eine Macke, wirklich schlimm sind die andern, die Organisierten, die Jungen.
Aber ob die nicht auch, als einzelne betrachtet, alle irgendeine Geschichte haben? Genau wie Frau M. aus erfindlichen Gründen in ihrem Wahn befangen sind?
Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit, Appelle auf Kreissynoden, so wichtig sie für die öffentliche Aufmerksamkeit sein mögen, sie ändern Frau M. nicht und auch nicht ihren Sohn, der bei den Republikanern ist.
Ich könnte allerdings etwas tun. Ich könnte mit Frau M. Kaffee trinken, den polnischen Nachbarn und sie zusammen einladen, das Netz der nachbarschaftlichen Gemeinschaft knüpfen, keine Frage, das würde zumindest den Konflikt entschärfen. Aber dazu fehlt mir die Energie. Meine Lebensform lässt Zeit und Kraft für enge Nachbarschaft nicht zu.
Doch gibt es einen anderen Weg, der Angst vor den Fremden an die Wurzel zu gehen.
(Weltmission ‘90: „Die Stadt Gottes kennt keine Fremden“, hrsg. v. Ev. Missionswerk Hamburg1990, S. 35)

Medienhinweise

  • 18 Minuten Zivilcourage
    Rahim Shirmahd, BRD 1991, 20 Min, S/W, Dokumentarfilm
    Katalog EZEF
  • Schwarzfahrer
    Pepe Danquart, BRD 1992, 12 Min, S/W, Kurzspielfilm
    Katalog EZEF

Autorin: Gisela Führing
Juni 1996