Arbeitshilfe

Profit, nichts als Profit!

Le profit et rien d'autre
Filmessay von Raoul Peck
Frankreich, Deutschland, Haiti 2001, 57 Minuten

Prolog

„Ich komme aus einem Land, das theoretisch nicht existiert... Ich komme aus einem Land, wo jede intellektuelle Auseinandersetzung zum Luxus geworden ist und wo jeder neue Tag ein Sieg ist... Ich komme aus einem Land, dessen Geschichte eine Bürde ist und in dem der Alltag keinerlei Sinn mehr hat.“ Schon diese ersten, nicht ohne sarkastischen Unterton vom Autor gesprochenen Sätze des Kommentars aus der Eröffnungssequenz, komponiert zu Bildern gleichförmig sich brechender Wellen des karibischen Meeres, antizipieren die subjektive Erzählperspektive und den thematischen Fokus. Wie in einem Prolog justiert der opening shot vor allem Timbre und Textur des Nachfolgenden, zeigt doch bereits dieser Auftakt, der von den haitianischen Impressionen auf die Rolltreppen-Szenerie einer westlichen City zur Einblendung des Titels PROFIT, NICHTS ALS PROFIT! NACHDENKEN ÜBER KLASSEN-KAMPF hinüberleitet, Pecks Kunst der Kontrastmontage als Teil der persönlichen Handschrift des Films.

Inhalt

Die essayistische Form mit ihrem Assoziationsreichtum, mit ihren konsequent genutzten Perspektivenwechseln und Möglichkeiten der Montage spricht gegen den Versuch einer chronologischen Wiedergabe des Inhalts entlang des Sequenzverlaufs. Mit vier voneinander unterschiedenen Ebenen, die im Film fortwährend ineinander gespiegelt werden, eröffnen sich Zugänge zum Inhalt (auch zu Thema, Gestaltung und Diskussion). Die grundlegende Blickachse des Films, gleichsam die durchs Hauptportal, erschließt sich aus der erstgenannten „haitianischen Perspektive“.

1. Profitstreben von Port-à-Piment aus gesehen. Haitianische Perspektiven auf Dekolonisation und Globalisierung
Dem Betrachter „seiner“ Welt im Fischer- und Bauernstädtchen Port-à-Piment muss die Beschreibung der schönen neuen Börsenwelt mit ihrem Streben nach spekulativem Profit wie überflüssige Prosa erscheinen, die Notwendigkeit, an diesem Ort in Haiti zu überleben, ist ganz und gar unprosaisch. Der „Glanz der Kolonialzeit“, spätere Verheißungen von Fortschritt – wenig davon strahlt ab auf die heutigen Dienstboten schwarzer Hautfarbe wie auf die Straßenreiniger vor weiß getünchtem Palast. Ebenso wenig wie Nachrichtenbilder von Geschäftsplünderungen, Aufruhr, brennenden Autos und einer um sich ballernden security irgendwo in den Metropolen zwischen Djakarta, Rio und Los Angeles den Betrachter wirklich glauben machen können, dass der Siegeszug „des Kapitals“ die universell allein gültige, in der Natur der Dinge liegende Wahrheit ist und zudem auch noch so gewaltlos vonstatten geht, wie es seine Befürworter gern behaupten.
Die Lasten tragenden Haitianer in der Bergregion tragen schwer an der Last der Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse. Von Misswirtschaft und Funktionsstörungen können sie ein Lied singen, „die letzte war 30 Jahre an der Macht.“ So entfernt ein Land wie Haiti, dessen Staatshaushalt für die nächsten 30 Jahre etwa so groß sein wird wie das derzeitige Vermögen von Bill Gates, aus sich heraus von der Befriedigung dieser Grundbedürfnisse auch scheint, so wenig fehlt es global gesehen an Mitteln dazu: „Um die Grundbedürfnisse auf unserem Planeten zu stillen, wären rund 40 Milliarden Dollar jährlich nötig, kaum 4% des angehäuften Reichtums der 200 größten Privatvermögen der Welt.“ Grandios und ausgelassen die Millenniumsfeiern in den Metropolen, aber für die barfuß laufenden haitianischen Kinder, die in rosaroten Kleidern singend durch das Kieselsteinbett eines Flüsschens waten, hat das neue Jahrhundert um einiges unspektakulärer begonnen: „Ein neues Jahrhundert beginnt, aber nichts wesentliches ist geschehen. Von Haiti aus gesehen wird die nähere Zukunft nicht dieselbe sein für alle.“
Einer der Befragten bestätigt die Aussichtslosigkeit, nur wer hierzulande Gönner habe, bringe es zu etwas. Korruption allenthalben, bleiern lasten Trauma und Erfahrung der nicht vergehenden Geschichte der Diktatur unter „Papa Doc“. Wahlen, bei denen Wahlzettel vor den Augen der Öffentlichkeit manipuliert werden, werden zur Farce, sarkastisch der Kommentar dazu: „Wie in den guten, alten Zeiten der Diktatur kennt das Regime nur ein einziges Modell: der Prophet oder der Tod. Das soll eine Wahl sein!“ Der einheimische Agrarökonom Gerard  Mathurn beklagt, dass man das Beste, was man an Ressourcen im Lande habe, „rausgeben“ müsse.
Aber die Ökonomie des Mangels und der Ausplünderung zeitigt im Kleinen auch Strategien individueller Selbstbehauptung, alltäglicher Auseinandersetzung und kollektiver Phantasie. Wie selbstverständlich muss in einem Land, das es unter seinen Machthabern in den letzten Jahrzehnten gelernt hat, all das zu akzeptieren, was anderenorts nicht mehr rentabel war, die Marktfrau bei ihrem mühsamen Umschlag von Waren des täglichen Bedarfs ohne nennenswerte Überschüsse auskommen, geschweige denn eigenen Profit.
Die diensthabende Kinderärztin, die weiß, das Glück in ihrem Lande ein Überschuss ist, arbeitet umso zupackender für ein anständiges Leben mit einem Minimum an Selbstachtung. Nicht ohne Stolz sieht sie als Ärztin, die ihr Land liebt, ihre Bestimmung darin, zu bleiben und zu helfen. Selbstbewusst und nüchtern mit Blick auf Opfer und „Gestehungskosten“ hinterfragt der Agrarökonom die Rhetorik vom „triumphierenden Kapitalismus“, der in der westlichen Hemisphäre Probleme auf Kosten anderer löse, in ärmeren Ländern wie Haiti bisher so gut wie gar nichts zur Lösung der drängenden Probleme beigetragen habe: „Wo soll da der Triumph sein?“
Muss nach dem Ende von Blockkonfrontation und Staatssozialismus das „Projekt Erde“, so hier die sozialökologische Utopie von Globalisierung, nicht jenseits zügelloser marktkapitalistischer Strategien ganz neu überdacht werden, etwa als Aufgabe der Vereinten Nationen?

2. Feier der Gegenwart, Streben nach Geld, Angst vor der Zukunft – Mentalitäten, Sichtweisen in der globalisierten Welt des Westens
Für das auf der Straße befragte junge US-amerikanische Paar und den Mann ist das Streben nach Geld nicht alles, Gesundheit und Glück rangieren als höherwertige Güter – aber ohne das Vorhandensein von Geld ist doch alles nichts. „Alles muss raus für einen Dollar!“ bietet der marktschreierische T-Shirt-Verkäufer fast besinnungslos seine Ware feil. Bilder von Werbung, Inschriften einer Welt. Money makes the world go round, der Traum vom Lottogewinn. Aber wie menschliche Bedürfnisse auf Dauer befriedigen, wie korrespondieren Geld und Glück: „Am liebsten wäre mir beides. Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, Geld würde mich nicht interessieren!“ Aus der Distanz gesehen feiern selbst die Menschenmassen bei den ausgelassenen Millenniumsfeiern in New York und London einen doch auch flüchtigen Fortschritt und eine trügerische Zivilisation: „Das Dasein feiern, dass man bis jetzt überlebt hat. Den Verzicht auf das Glück für alle feiern. Feiern, um keine Angst mehr zu haben!“
Demonstranten in den Metropolen hinterfragen die Rede von der Wirtschaft, die im Dienste des Menschen stehe. Schon längst ist in der neuen Wirtschaft der reichen Länder des Nordens die Arbeit nicht mehr Garantin von Glück und Erfolg, das zeigt z.B. der massenhafte Einsatz von Robotern in der Auto- und Elektronikindustrie.
Die Blicke auf Gesichter von Menschen spiegeln vorderhand Zufriedenheit mit dem Status Quo ihrer Gegenwart, was aber verraten oder verhüllen sie uns in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft? Die New Yorker Krankenschwesterschülerin lernt von Wechselfällen in der Lebenswelt und ahnt zugleich etwas von der Fragilität des Systems, in dem sie lebt: „Alles kann plötzlich zusammenbrechen, sich ändern. Deshalb muss man immer für den Tag leben, möchte ich nicht auf Zukunft bauen!“ Noch deutlicher artikuliert ein junger Amerikaner sein hedonistisches Motiv, im Hier und Jetzt leben zu wollen: „Wenn ich mir die Welt so ansehe, habe ich Angst vor der Zukunft!“

3. Der Blick von Wirtschaftswissenschaftlern und Soziologen – Einsichten in die Logik des Neoliberalismus oder: wie universell ist die Macht des globalen Kapitals?
Wie Haltepunkte im Fluss der Assoziationen erscheinen die „talking heads“, renommierte Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen, die Funktionsweisen der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung und deren eherne Gesetze elegant auf Begriffe zu bringen trachten. Die neue Dimension einer völligen Liberalisierung der Kapitalmärkte, die Deregulierung der nationalen Wirtschaften und die neuartigen internationalen ökonomischen Verflechtungen, politisch durchgesetzt in der Ära von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, finden Erklärungen in ökonomischen Theorien, die so neu nicht sind.
Die Allmacht des Systems, das kein Jenseits duldet, höchstens die Hölle als Außen kennt – oder, so sagt es der Soziologe Emmanuel Wallerstein, das „völlig verrückte und zugleich äußerst effiziente System ununterbrochener Kapitalakkumulation um der Kapitalakkumulation willen belohnt diejenigen, die daran mitarbeiten, und jagt diejenigen zum Teufel, die sich ihm widersetzen.“ Serge Latouche, der Wirtschaftswissenschaftler, faßt seine anthropo-ökonomische Sicht in ein Bild: „Wenn man einen Hammer im Kopf hat, sieht man alle Probleme in Form eines Nagels. Und die modernen Menschen haben einen Hammer im Kopf, nämlich die Wirtschaft. Sie nehmen alle Probleme unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wahr!“ Für Bernard Maris, ebenfalls Wirtschaftswissenschaftler, wäre es schon ein Fortschritt, das eigentlich feudale und undurchsichtige System der New Economy transparent zu machen, das unter dem Deckmantel der Wirtschaft Politik macht. Sein Kollege René Passet spricht von der unerbittlichen Logik des Systems, einem unstillbaren Hunger nach Macht, der den Unternehmer bar jeder Alternative dazu verdammt sein lasse, das Maximum an Überschuss herauszuholen.
Immer wieder umkreisen die vorgetragenen funktionalen Erklärungsansätze ökonomischer Systemtheorie ihre blinden Flecken selbst. Humane Werte wie Verantwortlichkeit, individuelle und ethisch-soziale Optionen, Selbstreflexion können vom herrschenden System der Effizienz-Wirtschaft nicht angemessen, d.h. systemkonform honoriert werden. Die von Werbung, Fernsehen, Medien und Zeitgeist beförderte Kolonisierung der Phantasie in der neuen virtuellen Wirtschaft erscheint Serge Latouche in Anlehnung an den „amerikanischen Traum“ (Jeder hat seine Chance, jeder kann gewinnen!) als eine „Euphorie, die ich die Essenz des europäischen Mythos nennen würde.“ Verlierer, Arbeitslose etc. können hierzulande als vorübergehende, irgendwie einzudämmende „Störung“ vom System more or less noch integriert werden, „aber als Preis für all das wird ein ganzer Teil unseres Planeten, von dem man nicht spricht, geopfert.“ Luzide dementiert auch René Passet die universelle Gültigkeit der Lehre vom Marktmechanismus zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse: „Markt ist dazu da, Nachfrage zu befriedigen, also das erfüllbare Bedürfnis. Auch ganz unnütze, frivole Bedürfnisse, vorausgesetzt man hat genug Mittel, um sie zu befriedigen; während die, die nichts haben, nicht einmal ihre Grundbedürfnisse stillen können.“

4. Erinnerung und Gedächtnis im Film – Arbeit am Mythos oder: wie sich Bilder vom Prozess der Globalisierung machen?
Die Skepsis gegenüber Zahlen und Worten gilt mehr noch den Bildern, wo doch die Wirklichkeit in ihrer Komplexität sich der Geste des Zeigens verweigert. Wir sehen, wie abgenutzt uns die Visualisierungen von Elend und Armut, die Skandalbilder von marodierender Soldateska und anderen Auseinandersetzungen aus dem Archiv des kollektiven Gedächtnisses begegnen, gleichgültig, ob nun gespeichert als dokumentarische oder als fiktive Bilder. „Warum“, so fragt der Autor-Kommentar, „eigentlich noch Bilder machen? Als Erinnerung an verlorene Kämpfe, um Spuren zu hinterlassen, für welche Zukunft?“ Fast alles ist doch längst gefilmt, erklärt und gesagt worden, ohne dass sich der Lauf der geschichtlichen Welt wirklich nachhaltig geändert hätte – geschlagen also die langen Schlachten der Wörter und die vielen Kriege der Bilder? Appellativ zitiert der Film den Titel eines Buches („Die Pflicht zu wagen“) und daraus das Satzfragment „die unbewusste, aber dringende Notwendigkeit einer neuen Schreibweise.“
Spielfilmausschnitte, Filmklassiker, Ikonen von moving images – gesehen von staunenden Kinderaugen im Kino. Wenn schon nichts anderes übrigbleibt als die Erinnerung, und wir gehalten sind und sein werden, uns zu erinnern, so erinnern wir uns nur an etwas, was uns berührt. Was aber bleibt zu erinnern? – „Filme, die einem das Herz schneller schlagen lassen, hat Chris Marker gesagt. Eine kollektive Erinnerung an Konflikte, die nicht immer die unsrigen waren. Und doch gibt es diese Bilder, die einen nicht loslassen, seltene Augenblicke der Wahrheit.“

Epilog
„Friedliche“ Bilder von Mädchen, die ausgelassen im karibischen Meer tollen, ein Akkordeon spielender und singender Alter, der Blick wird frei auf Schwimmende in den Wellen einer Meeresbrandung, währenddessen der Kommentar zum Epilog anhebt, wiederum geschnitten auf Blicke aus Kindergesichtern: „Warum Filme machen? Vielleicht, weil man nicht anders kann, weil es anständiger ist als Autos anzuzünden. Dabei wären wir doch schon mit so wenig zufrieden. Wir verlangen ja nur ein wenig Glück, eine Hoffnung für die Zukunft, wir verlangen auch, dass unser Planet nicht zerstört wird, dass nicht mehr behauptet wird, das Wachstum führe zum Fortschritt oder der Fortschritt führe zum Wachstum....Aber das Kapital hat gewonnen.“ Das letzte Bild findet der Film in Kindergesichtern, ungewiss blickend, offen – wie die Zukunft?

Zur Kritik

„Profit nichts als Profit!“, mehr noch als vorangegangene Arbeiten Raoul Pecks, ist ein gelungenes, auch rares Beispiel, für die Verbindung von Poesie, Politik und Subjektivität eine filmisch angemessene Ausdrucksform zu finden. Das darin liegende Unkonventionelle, so könnte man auf den ersten Blick meinen, erschwere den Zugang zur vorliegenden Arbeit. Tatsächlich jedoch belohnt es den Betrachter, der bereit ist, sich darauf einzulassen, sehr schnell mit einer umso eindringlicher ansprechenden Lektüre eines Films, von dem man ohne alle filmtheoretischen Verrenkungen als Text sprechen kann. Dass eine in der neueren Filmgeschichte so bedeutsame Handschrift des politischen Kinos in der ersten Person wie die Filme von Chris Marker keine wirksame Tradition auszubilden vermochten und eine Filmarbeit solchen Sinnes heute, wenn überhaupt, so gerade noch an den Rändern der Kino- und Fernsehöffentlichkeit präsent ist, hat vielfältige Gründe: Vor allem fehlte diesem Kino der reflexiven engagierten Auseinandersetzung in der Ära nach ´68 lange der politische Humus, aus dem Haltung und Engagement, aber auch Poesie und Ironie frei von Zynismus hervorgehen können.
Genau die Kombination dieser Elemente kennzeichnet den vorliegenden Film. Von Anfang an – „Ich komme aus einem Land...“ – etabliert er die subjektive Perspektive eines Autors, dem als emigrierter haitianischer Intellektueller und als Cineast ein besonders nachhaltig „globalisierter“ Blickwinkel zu eigen ist, der mit Eigensinn auf Objektives trifft. Das Sprechen in der ersten Person und die gleichwohl „strenge“ filmische Strukturierung des disparaten Materials in einem dramatischen Gerüst widersprechen sich dabei keineswegs. Ganz im Gegenteil, aus schroffen Kontrastierungen, sarkastischen Kommentierungen, polemischen Zuspitzungen und poetischen Kompositionen im Bild wie im Ton vermag Raoul Pecks vielschichtige Filmreflexion zu (nicht: über!) Postkolonialismus, Globalisierung, Haiti und dem Bilderfinden recht eigentlich erst Funken zu schlagen.
Charakteristisch für den Film ist die eigensinnige Verbindung von Text und Bild. Bei genauer Betrachtung der Verfahrensweise von "Profit, nichts als Profit!", in dem Worte wie Bilder höchst signifikant sind, kann man nicht von einer sich öffnenden „Ton-Bild-Schere“ sprechen, wie man das bei allzu wortlastig daherkommender Feature- und Essayfilm-Dramaturgie sonst (zu Recht) tun muss. Man verstünde das komplexe Ineinander von Text und Bild dieses Films nicht angemessen, wollte man ein hierarchisches Verhältnis für die Kompositionsebenen des Literarisch-Poetischen und des Kinematographisch-Visuellen postulieren. Der intellektuelle Cineast vermag sich in Worten wie in Bildern unterschiedlichster Provenienz gleichermaßen, auch gleichwertig auszudrücken; engagiert bringt er Ernstes mit Ironisch-Augenzwinkerndem, Wissenschaftlerbefragungen und Straßengespräche, Naturimpressionen mit Bildern großstädtischer Silhouetten, Alltagsszenen und Archivbilder, Spielfilmausschnitte und Werbebilder, Schaubildeinblendungen und Musikeinspielungen etc. kompositorisch zusammen.
Unter Text sollte im vorliegenden Film nicht nur der besonders einprägsame, weil artifiziell sehr ausgefeilte Autor-Kommentar verstanden werden, der, im vorgetragenen Ton höchst prägnant, neben anderem auch auf Begrifflichkeiten aus der marxistischen Terminologie rekurriert. Ohne Frage ist gerade diese Text-Wahl mit Blick auf die „Aussageintention“ höchst bedeutsam (vgl. dazu das Interview). Gleichwohl ist Pecks dezidiert subjektive, künstlerische Verwendung solcher Begriffsstrategien im Filmkontext nicht dasselbe wie etwa deren Propagierung im Geltungsbereich der Wissenschaften oder der Politik. Mit anderen Worten: Der Kommentar-Text im Film will als formal strukturierendes Element ästhetisch wie aber auch als Ausdrucksmoment des „Aufschreis gegen den Triumph des Kapitalismus“ von der inhaltlichen Seite ethisch wahrgenommen werden. Dieses Spannungsverhältnis von Ästhetik und Moral trägt der Film auch auf anderen Ebenen in der ihm eigenen Dramaturgie von Poesie und Engagement aus.
Unter den Diskurs-Vorzeichen von postmoderner Beliebigkeit und intellektueller Gleichgültigkeit nahe am Zynismus war das lange Zeit eine scheinbar veraltete polit-ästhetische „Position“; sie hat aber jetzt durch Tendenzen einer Repolitisierung und „Rückkehr der Geschichte resp. des Sozialen“ z.B. in der Antiglobalisierungs-Bewegung doch einiges an Aktualität zurückgewonnen (vgl. Zur Diskussion). Den Stellenwert des Verhältnisses von Kommentartext zur visuellen Ebene im Entstehungsprozess des Films hat Raoul Peck im Gespräch erläutert: „Zuerst habe ich einen Text geschrieben. Ich bin von einem Konzept, von einer bestimmten Auffassung ausgegangen. Als ich dann das Material vorfand, klärte sich vieles. Ich habe meinen Text immer wieder überarbeitet. Für mich zählt (beim Filmen dann, R.M.) vor allem der menschliche Blick. Beim Kontakt, bei der Begegnung will ich nicht lügen oder mogeln. Später, beim dramaturgischen Aufbau des Textes und des Schnittes kann ich dann ein wenig mogeln.“
(zitiert nach einem 2001 auf der arte-homepage veröffentlichten Interview mit Raoul Peck)

Zur Diskussion

Losgelöst von seinem Entstehungskontext im engeren Sinne („Börseneuphorie“) wirft der Film grundlegende, höchst aktuelle und weitreichende gesellschaftspolitische Fragen nach dem Rhythmus des Geldes auf; Fragen nach einem Geldkreislauf, der sich dem Publikum so suggestiv wie nichtssagend symbolisiert in den laufenden Indices, wie sie ohne Unterlass weltweit über die Fernsehbildschirme flimmern.
Hier die cleane Welt der Börsenmakler des reichen Nordens mit ihren virtuellen Finanz- und Wirtschaftssystemen, dort die sogenannte Dritte Welt, in Wirklichkeit Zweidrittelwelt des Hungers und der Abhängigkeit; Marktanalysen als Kritik der Globalisierung; Dritte Welt als Arbeiterklasse von heute etc. Dieses hier schlagwortartig wiedergegebene suggestive Szenario hat mittlerweile bis in die kulturelle Öffentlichkeit von Stadttheatern Eingang gefunden, wie z. B. eine aktuelle Lesart von Brechts „Heiliger Johanna“ im Frankfurter Theater am Turm (TAT) zeigt. Politisch hat derweil eine von niemanden mehr unterschätzte Bewegung binnen kurzer Zeit weltweit an Zulauf und Fahrt gewonnen; eine Bewegung, die verbunden ist mit Orten der Weltwirtschaftskonferenzen von Seattle über Prag bis Genua, mit dem Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum) in Davos und nun New York, mit der Gegenveranstaltung des World Social Forum im brasilianischen Porto Alegre und nicht zuletzt mit kritischen NGO-Organisationen wie Oxfam und Attac (ganz zu schweigen von der inzwischen reichhaltigen Globalisierungsliteratur und –publizistik, auch und gerade im Internet, vgl. dazu Literaturhinweise u. Info zu Attac). Auch nach dem 11. September besteht ungebrochenes kritisches Interesse an Globalisierungsthemen, die Zielsetzung einer solidarischen und gerechteren Welt schließt die Überwindung des globalen Terrors mit ein Raoul Pecks Film, der mit den Augen des desillusioniert-melancholischen und zugleich engagierten Intellektuellen auf seine Weise die von Kapitalinteressen des Westens geprägte Weltwirtschafts- und Sozialordnung sondiert und Stellung dazu nimmt, ohne dabei „ein Blatt vor den Mund zu nehmen“, hat im Zusammenhang der neuen, antikapitalistischen Globalisierungskritik einen besonderen Stellenwert. Im Interview hat er sich ausdrücklich zu den Zielsetzungen dieser Bewegung bekannt. Tatsächlich spricht sein Film mit der ihm eigenen Sprechweise, mal mehr implizit, mal expliziter, teilweise auch sehr pointiert eine Reihe von essentials der Globalisierungskritik an, wie etwa:

  • Kritik an der fortschreitenden Spaltung der Welt in Nord und Süd, in global prosperierende Zonen (ein Drittel) mit relativem Wohlstand und immer mehr verarmende, verelendende Zonen (zwei Drittel)
  • Forderung nach Zugang zum Wohlstand durch nachhaltige Entwicklung
  • Kritik an Neoliberalismus und Deregulierung
  • Kritik an der fortschreitenden Entwertung (national-)staatlicher Politik durch die unkontrollierte Macht des Finanzkapitals und internationaler Konzerne, Monopole und Oligopole
  • Kritik an der Verlagerung von Entscheidungskompetenzen aus der Sphäre (demokratisch mehr oder weniger) legitimierter staatlicher Strukturen in demokratisch nicht legitimierte informelle Machtzentren
  • Forderung nach Stärkung der Zivilgesellschaft(en), Selbstorganisation der Gesellschaft(en) auf örtlicher Ebene
  • Einklagen von umfassender Demokratie, nicht einseitig zu Lasten der ärmeren Länder
  • Forderung nach einer umfassenden sozialen, kulturellen, ethischen und ökologischen Globalisierung.

Arbeitsmöglichkeiten mit dem Film

„Profit, nichts als Profit!“ ist in vielerlei Hinsicht ein Solitär, für den sich als solchen in der entwicklungsbezogenen, politischen Medienarbeit Anknüpfungspunkte und Zusammen-hänge finden.
Zuerst ist dabei an Filmarbeit zu denken, die im Umfeld von Volkshochschulen, Kommunalen Filminitiativen und - Kinos Zugänge etwa zum Thema Globalisierung eröffnen möchte. Der anspruchsvolle Film passt gut in den Kontext solch bildungsnaher Film- und Kinoarbeit. Hier bietet sich eine Zusammenarbeit an mit örtlichen Unterstützer- oder Aktionsgruppen aus dem Netzwerk von Attac, aber auch mit anderen Organisationen, die auf diesem Felde der entwicklungspolitischen Arbeit schon länger tätig sind. Für Adressaten aus diesem Umfeld, die mit der Materie bereits mehr oder weniger hinreichend vertraut sind, kann die öffentliche Vorführung des Films inkl. Einführung und Nachgespräch eine lohnende, visuell gestützte Vertiefung des Wissensspektrums sein, je nach dem vielleicht auch eine Erweiterung von Facetten des (Anti-)Globalisierungsdiskurses, die Raoul Pecks Film anspricht. Dessen engagierter, dezidiert politischer Ton inkl. der zuweilen sarkastisch-polemischen Zuspitzungen wird Rezipienten, die sich bereits in den Spuren der Globalisierungskritik bewegen, nicht ganz unvertraut sein. Der eigene Rhythmus des Films dürfte gerade auch bei aufgeschlossenen, am Thema interessierten jungen Erwachsenen „ankommen“.
Etwas schwieriger, wenngleich nicht unmöglich, dürfte die Arbeit mit dem voraussetzungs-vollen Film in der Schule sein. Für einen „Einsatz“ als Medium im Oberstufenunterricht (etwa fächerübergreifend Sozialkunde, Religion/Ethik) kämen hier ausgesuchte, pädagogisch besonders vorbereitete Situationen in Betracht. Da der Film in der ersten Person, sehr subjektiv spricht, entwickelt er die in Rede stehenden Themenfelder naturgemäß nicht systematisch. Dementsprechend vermittelt er sie auch nicht im Sinne einer „seriösen“ Thema-Dokumentation bzw. in der Art eines rein sachlich daher kommenden Informationsmediums. Schon deshalb eignet er sich nicht für wenig vorinformierte Zielgruppen, die explizit nach einem Medium zur Einführung ins Thema suchen. Umgekehrt könnten z.B. gerade im Projektunterricht die engagierte Sprechweise, der Manifest- und Pamphlet-Charakter (vgl. dazu das Interview u.) als eigenständige „Textsorte“ interessante Anknüpfungspunkte für methodisch-didaktische Erarbeitungen sein (etwa Vergleich mit anderen literarischen Manifesten und Pamphleten etc.). Für eine angemessene Würdigung insbesondere der oben angesprochenen ästhetisch-ethischen Doppelcodierung des Kommentars und der damit verbundenen eigenen Sprachgestalt des Films bedarf es im schulischen Zusammenhang in jedem Fall einer Sensibilisierung. Im Zentrum solcher gesprächsweiser Erarbeitungen wird es vor allem um eine Einordnung des sarkastisch-ironischen, polemischen Untertons in Hinsicht auf die „Aussage“ gehen. Die starke existentielle Dimension des Films, die erfahrungs-gesättigte Haltung, die darin zum Ausdruck kommt, vermag interessierte und engagierte SchülerInnen vielleicht nachhaltiger anzusprechen als trockene, pseudosachliche Vermittlung.

Über den Regisseur

1953 in Port-au-Prince, Haiti geboren. Übersiedlung mit der Familie in den nach Unabhängigkeit strebenden Kongo Anfang der 60er Jahre. Ausbildung zum Wirtschaftsingenieur, Journalist und Fotograf; div. Auslands- u. Studienaufenthalte in den USA, Frankreich und in Deutschland; Soziologiestudium, in Berlin Filmstudium an der Film- und Fernseh-Akademie (DFFB). Seit Beginn der 80er Jahre erste Filmarbeiten, 1988 Realisation von HAITIAN CORNER, worin er sich mit Geschichte und Gegenwart seines Heimatlandes auseinander-setzt – einem Thema, dem er fortgesetzt sich widmet, so insbesondere 1993 in seinem bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellten Spielfilm L`HOMME SUR LES QUAIS (Film des Monats der Jury der Ev. Filmarbeit) und 1994 HAITI, WARTEN AUF DIE RÜCKKEHR, HAITI, LE SILENCE DES CHIENS. 1991 mit LUMUMBA – LA MORT DU PROPHÈTE Annäherung an den Mythos Patrice Lumumba in Form eines dokumentarischen Filmessays,– eine Beschäftigung, die nach langer Realisationszeit im Jahre 2000 zu dem vor allem in Frankreich, Belgien und in den USA vielbeachteten Spielfilm LUMUMBA (ebenfalls Film des Monats) geführt hat.
Zwischenzeitlich hat er fürs Fernsehen weitere Arbeiten realisiert, so 1998 CORPS PLONGÉS für Arte, eine filmische Reflexion über das Thema Erinnerung und Exil. Auch LE PROFIT ET RIEN D’AUTRE ist eine Auftragsarbeit für Arte, konzipiert als Beitrag zu einer vierteiligen Reihe „Die Börse und das Leben“ (vgl. Interview), innerhalb derer Pecks Filmessay den Auftakt bildet. 1996 und 1997 hat Raoul Peck in der Regierung seines Heimatlandes unter dem Präsidenten René Préval kurzzeitig das Amt des Ministers für Kultur innegehabt, heute lebt und arbeitet er in den USA, Frankreich und Haiti. Seit April 2000 ist er Präsident der französischen Commission d’Aide au Cinéma Fonds Sud..

Interview mit Raoul Peck zu „Profit, nichts als Profit!“

F: Im Rahmen der Arte-Reihe „Die Börse und das Leben“ hast Du den Film zu einem Zeitpunkt begonnen, als die Börse boomte und insbesondere die Neuen Märkte Triumphe feierten. Als Dein Film fertiggestellt war, lagen die Neuen Märkte mitsamt ihren Börsennotierungen am Boden. Deinem Film hat dies offensichtlich nichts ausgemacht. Wo setzt der Film an, was ist sein Ausgangspunkt?
A: Der Film ist das Ergebnis langjähriger Erfahrungen und Gedanken, von Enttäuschungen und verlorenen Kämpfen, von Einsichten und Reife. Als Arte an mich herangetreten ist wegen dieses Projektes, habe ich nachgedacht: Worüber könnte ich heute einen Film machen, wenn ich totale Freiheit hätte? Wo ist die Quelle unserer Probleme? Was ist die wichtigste Erklärung für diese Welt, in der wir heute leben? – Und da stand das Thema Profit für mich ganz klar an erster Stelle. Profit aber nicht als etwas Modisches, Selbstverständliches, wie es heute oft verstanden wird, sondern Profit vielmehr in seinem klassischen Sinne: als jegliche Form von Geld machen, Reichtum anhäufen, Kommerz betreiben und das im Zusammenhang gesehen mit allem, was im Leben unserer verschiedenen Gesellschaften damit zu tun hat, egal ob man in Haiti, Kongo oder in New York lebt.
Die Frage war, welche Effekte und Resultate dieses Ausgerichtetsein auf Profit für unser Leben hat. Es wurde mir klar, dass sich an den entscheidenden Mechanismen nichts wirklich geändert hat, nicht an den Beweggründen, nicht einmal an den volkswirtschaftlichen Kategorien. Substantiell hat sich gar nichts geändert, an den Zielen auch nichts, die treibende Kraft ist genau dieselbe geblieben; nur die Formen, die Namen und die Rhetorik, unter denen man uns dies jetzt verkauft, haben sich geändert: Was umgangssprachlich bisher Kapitalismus genannt wurde, heißt jetzt Liberalismus und Neoliberalismus. Es gibt noch verschiedene solcher Namensänderungen und Umbenennungen, aber das wichtigste Wort bei all dem bleibt Kapital. Es ist und bleibt die treibende Kraft, selbst in den ehemaligen sozialistischen Ländern war Kapital am Werk. Immer noch geht es um etwas, das man früher viel einfacher benannt hat, es geht um Klassenkampf. Heute darf man dieses Wort ja fast nicht mehr in den Mund nehmen, denn es klingt wie ein altes Konzept. Aber leider existiert Klassenkampf, existieren Klassen noch immer. Wie man diese Klassen definiert, wie sie sich ständig verändern, darüber kann man diskutieren; aber dass jemand, der in Haiti geboren ist oder in Kongo, weniger Chancen hat, nur weil er dort geboren ist, das ist ein Faktum.

F: Wo verlaufen heute die Grenzen dieses Klassenkampfes bzw. die Grenzen zwischen den Klassen?
A: Die Grenzen verlaufen nicht in klaren und geraden Linien, es sind vielmehr Linien, die sich überlagern, nicht nur geographisch, nicht nur in der Dritten Welt. Kapitalismus und Klassenkampf gibt es in den ärmsten Ländern ebenso wie in den reichen Ländern, selbstverständlich jeweils auf unterschiedlichem Niveau. Der Unterschied zwischen den armen Ländern und den reichen aber ist, dass letztere von den armen leben. Dieser komplexe Zusammenhang zwischen Reichtum und Armut ist für mich klar und prägnant, auch wenn man heute lieber eine einfache Trennung macht zwischen „Wir hier sind reich, und die da drüben sind arm.“ Noch einmal zur Frage nach den Klassen: Es ist heute in der Tat unsinnig, über eine Arbeiterklasse in den industrialisierten Ländern zu reden, darum geht es längst nicht mehr!
Es geht vielmehr darum, welches Bewusstsein die Menschen in einer entwickelten Gesellschaft haben. Denn selbst wenn sie „ausgebeutet“ sind, sind sie in der Regel viel besser dran, weil besser abgesichert, als irgendein Arbeitsloser in Kongo. Aber selbst diese Absicherung folgt nicht allein aus ihrer eigenen Arbeit, sondern sie resultiert wiederum aus der Ausbeutung anderer, ärmerer Länder. Das heißt nun nicht, dass derjenige, der in einem reicheren Land einen bestimmten Komfort erreicht hat, nicht das Recht hat, mehr zu verlangen – auf seine Verhältnisse bezogen muss er das sogar. In diesen Verhältnissen macht er ja auch die Erfahrung, seine Arbeit zu verlieren, währenddessen er mit ansehen muss, wie der Boss derselben Fabrik seine Arbeit zwar ebenfalls verliert, dafür aber Millionen stock options erhält, obwohl er sein Geschäft in den Sand gesetzt hat. Es gibt dafür, je nachdem auf welcher Ebene man dies diskutieren will, verschiedene Erklärungsansätze, die in der Tat komplex, aber eben doch nicht unverständlich sind. Mit meinen Film habe ich versucht, die Komplexität der Zusammenhänge ein wenig in unser Bewusstsein zurückzubringen. Etwas von dieser Komplexität wollte ich zeigen, denn man soll die Dinge auch komplex zeigen, weil es keine einfachen Lösungen und Antworten für die angesprochenen Probleme gibt.

F: Aber diese Komplexität, von der Du sprichst, wird im Film ja auch immer wieder reduziert, beispielsweise dadurch, dass der Kommentar mit wiederkehrenden Formeln wie der des „triumphierenden Kapitalismus“ arbeitet. Durch die Wiederholung erhält diese Formel den Charakter eines Leitmotivs, ja sie nimmt fast schon den Charakter einer religiösen Formel an. Ist nur dieser „triumphierende Kapitalismus“ übrig geblieben nach dem Fall der Mauer?
A: Ja, das ist es leider, was bei der oberflächlichen Wahrnehmung der Medien und der dominierenden Kultur übrigbleibt: ‚Wir haben gewonnen! Das Recht hat gewonnen! Die  Freiheit hat gewonnen! Die Guten haben gewonnen! Der Westen hat gewonnen!’ Alles Begriffe und Formeln, die man fast deckungsgleich verwenden kann.

F: Verbirgt sich hinter der doch auch ironischen Haltung, mit der der Kommentar von „triumphierendem Kapitalismus“ spricht, so etwas wie die historische Gewissheit oder die immerhin begründete Hoffnung, dass es dabei nicht bleiben wird?
A: Dieser Kapitalismus präsentiert sich im Triumph – das ist seine Rhetorik! Aber man muss nur auf die Zahlen sehen, um zu bemerken, dass es nichts zu triumphieren gibt. So wie einer der Interviewten im Film fragt: ‚Triumph worüber?’ Ich frage: ‚Hat man denn die Probleme der Erde gelöst? Gibt es weniger Menschen, die tagtäglich sterben? Gibt es weniger Krankheiten?’ Die Grundprobleme sind immer noch da! 40.000 Kinder, ich zitiere diese Zahl im Film, die pro Tag sterben, was ist das für ein Triumph?

F: Und Haiti ist Exempel dafür, was alles passieren wird, wenn von den Folgen des Liberalismus gesprochen wird?
A: Ja. Unerfreulicherweise ist Haiti nur ein kleines Land. Wir haben keine Ressourcen zu verkaufen, wir haben heute nicht mal mehr Ressourcen auszubeuten. Man sollte sich aber daran erinnern, dass Haiti einstmals Santo Domingo war, die reichste Kolonie Frankreichs und zudem bis Mitte des 20. Jahrhunderts Entschädigungsgelder an Frankreich zahlte. Und man sieht, was heute übrig geblieben ist in diesem kleinen Land. Was ist das für ein Triumph? Wenn die Haitianer wieder einmal in kleinen Schiffen in die USA flüchten, dann entdeckt man plötzlich ein Problem – wieder einmal, als ob es zwischenzeitlich verschwunden wäre. Dann wird man sich wieder fragen: Muss man den Menschen helfen oder nicht? Dabei müsste man die politische Frage stellen, wie es dazu gekommen ist. Welche Rolle hat Amerika im Leben dieses kleinen Landes über mehr als 200 Jahre gespielt? Wieso musste jeder unserer Präsidenten – gleich ob es ein General oder ein so genannter gewählter Zivilist war – zuerst einmal immer grünes Licht von Washington bekommen? Wieso hat Washington einige unserer Präsidenten ermorden lassen? Die Konsequenz solcher Verhältnisse ist, dass Länder wie Haiti nie wirklich über ihre eigene Zukunft bestimmen konnten; jedenfalls selten allein und noch seltener demokratisch. Wenn jetzt die Konsequenzen dieser Politik derart schlimm sind, will man plötzlich nichts mehr damit zu tun haben!

F: Wo siehst Du Institutionen, Kräfte oder Bewegungen, die den im Film dargestellten Folgen der Politik des Neoliberalismus entgegensteuern können?
A: Ich sehe es als notwendig, wichtig und zugleich ermutigend an, dass zur Zeit in vielen internationalen Gremien über die Proteste gegen die Politik der Globalisierung diskutiert wird. Es zeigt, dass den Verantwortlichen diese Probleme zunehmend bewusst werden. Aber noch ein anderer Punkt ist für mich sehr wichtig: der Kampf vor Ort, da, wo wir jeweils leben, egal ob in den reicheren oder ärmeren Ländern. Es gibt eine Macht, die sich die Menschen selbst nehmen müssen, sie selbst müssen über ihr Leben, ihre Zukunft entscheiden können. In jedem Land, an jedem Ort, in jeder kleinen Gemeinschaft muss die Zivilgesellschaft gestärkt werden. Ich finde es wichtig, dass es in Europa und in Amerika wachsende Proteste gegen die Globalisierung gibt.
Nicht minder wichtig ist es, dass jetzt auch in unseren Ländern jenseits der Metropolen die neue Generation die Sache in die Hand nimmt. Dies sind lange, sehr lange Prozesse, es ist ein langfristiger Kampf, der jeden Tag geführt werden muss, und dessen Ende ich mit Sicherheit nicht erleben werde. Die Menschen in Haiti haben hierbei nicht die Wahl, ob sie pessimistisch oder optimistisch sein sollen, sie müssen schlicht überleben! Sie müssen Wege suchen, wie sie besser überleben können und wie sie irgendwann die Kontrolle über ihr eigenes Leben übernehmen können. Das hat auch etwas mit der Definition von Demokratie zu tun. Für mich ist eine Demokratie keine umfassende, in der, wie hier im Westen, wir zwar die meisten Probleme gelöst zu haben scheinen, die es aber zulässt, dass im Rest der Welt, immerhin auf zwei Dritteln des Planeten, Chaos, Armut und Tod herrschen!

F: Im Film sind ja einige solcher Haitianer zu sehen, die diesen alltäglichen Kampf führen – sei es die Händlerin, der Ingenieur oder die Kinderärztin, die entschieden dafür eintritt, im Land zu bleiben und sich verpflichtet fühlt, den Menschen dort zu helfen. Verglichen damit wirkt der Kommentar mit Formulierungen wie z.B. ‚Ich komme aus einem Land, wo jede intellektuelle Auseinandersetzung zum Luxus geworden ist’ einigermaßen resignativ. Man ist versucht, da die Erfahrungen des emigrierten haitianischen Intellektuellen herauszuhören. Kannst zu Du diesem Spannungsverhältnis etwas sagen?
A: Der Kommentar bringt Überlegungen zum Ausdruck, die sich in einem Gedankenfluss befinden. Darin wird natürlich auch Verzweiflung spürbar, gegen Ende aber wird dies dann wieder zurückgenommen. Dies ist wichtig, um den Zuschauer in diesen Gedankengang mit einzubeziehen.

F: Du greifst bewusst auf bestimmte Begriffe aus der Tradition der marxistischen Theorie zurück, so, als wären sie nicht abgegolten, als lebte ihr Erbe fort. Was bleibt heute von der Marxschen Analyse der Wirtschaft gültig, wo doch der Neoliberalismus vorgibt, Antworten gefunden zu haben?
A: Egal wie man zu Marx, der Geschichte des Marxismus, dem Arbeiterkampf, den sogenannten sozialistischen Ländern im einzelnen steht: Man kann bei all dem nicht übersehen, welche Bedeutung und welchen Einfluss die wirtschaftliche, die gesellschaftliche Analyse eines Karl Marx und Friedrich Engels gehabt haben und noch heute haben – politisch, philosophisch, soziologisch und ökonomisch. Das Interessante bei Marx ist: Seine Analysen basieren auf einer ganzen Reihe von Denkern, auch konservativen Denkern. Seine Analyse ist beides, sowohl begriffliche Entwicklung als auch empirische Analyse, vielleicht manchmal nicht ausreichend, aber trotzdem: diese Analyse steht! Und Marx ist bis jetzt der einzige geblieben, der die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft in ein logisches und stichhaltiges System von Gedanken gebracht hat. Das ist nun einmal so, ob wir das wollen oder nicht, und es ist eben diese Gesellschaftsform, die heute auf dem ganzen Planeten herrscht. Was wir jetzt, was Politiker, auch was Fanatiker mit dieser Analyse machen, das ist etwas ganz anderes!

F: Du hebst den Begriff des Profits hervor, bei dem nicht die Befriedigung der Bedürfnisse im Vordergrund steht, sondern ausschließlich die Vermehrung des eingesetzten Kapitals. Welches ist hier die Grundintuition Deiner Kritik?
A: Wenn man einen einfachen Satz wie „Profit regiert unser Leben“ ausspricht, dann weiß ich nicht, wer etwas dagegen sagen kann: Das ist nun einmal die Realität, das erleben wir jeden Tag, und mehr sage ich damit ja nicht. Mich stört die Arroganz, die in den Worten liegt „Die Welt, die Menschen sind nun einmal so: Man kann einen Menschen nur mit Profit vorantreiben, weil er dann etwas zu gewinnen hat.“
Man nimmt damit eine ganz bestimmte Art von Gesellschaftsformation und behauptet, diese sei universal, es gebe nichts anderes. Genau das ist nicht wahr, historisch nicht, ethnologisch nicht, und es ist auf allen Ebenen auch kulturell nicht wahr! Heute jedoch, und das ist es, was ich mit „triumphierendem Kapital“ meine, stellt man uns ein Modell als das beste vor, wozu es die Menschheit bringen konnte, nur weil es Profit gebracht hat – für eine Minderheit, wohlgemerkt, egal welche Gesellschaften wir betrachten, ob reiche oder ärmere. Die Pyramide ist immer dieselbe. Ich jedenfalls weiß, daß es andere Arten von Gesellschaften gegeben hat, die nicht auf dem Prinzip des Profitstrebens aufgebaut waren. Deshalb muß ich noch nicht die ganze Erbschaft des Leninismus, des Stalinismus oder von was auch immer antreten. Ich nehme mir das, was ich für die Analyse der Welt – dieser kapitalistischen Gesellschaft, in der wir leben - für richtig halte.

F: Beim Fernsehworkshop Entwicklungspolitik wurde der Film als Pamphlet charakterisiert und in einen Zusammenhang gebracht mit Georg Büchners Flugschrift „Der Hessische Landbote“, einem der wohl wichtigsten Pamphlete der deutschen Literatur- und Sozialgeschichte. Kannst Du Dich mit einer solchen Einschätzung der Form Deines Films anfreunden oder wie ordnest Du ihn unter ästhetischen Gesichtspunkten selbst ein?
A: Für mich ist dieser Film eine Art politisches Testament. Ich habe in diesen Film das hineingepackt, was ich in meinen 47 Lebensjahren geerntet und erfahren habe. Der Film kann durchaus auch als ein Pamphlet im Büchnerschen Sinne verstanden werden. Aber erst die totale Inexistenz der Stimmen macht ihn zum Pamphlet. Wenn man gehört wird, ist es in der Regel nicht nötig zu schreien. Wenn man in eine Diskussion involviert ist, kann man „feinere“ Argumente gebrauchen, und dann bedarf es auch keiner polemischen Untertöne. In diesem Sinne ist der Film vielleicht ein Pamphlet, aber mit Sicherheit ist er ein Schrei. Ein Schrei im Namen der Namenlosen, im Namen der Wortlosen. Diesen Zusammenhang zwischen Form, Inhalt und Ton thematisiere ich auch im Film. Die unmittelbare Dringlichkeit der Situation erfordert, ja sie produziert diesen Aufschrei geradezu. Die Zeit für intellektuelle Debatten ist längst vorbei, sie sind ein Luxus derjenigen, die noch besser dran sind. Das gilt auch für mich. Ich habe die für mich richtige Seite gewählt, und von dieser Position aus artikuliere ich diesen Schrei.
(Das Interview mit Raoul Peck führte B. Wolpert am 6. Juli 2001 in Berlin anlässlich des deutschen Kinostarts seines Spielfilms "Lumumba")

Literaturhinweise
(Kurzauswahl zur mittlerweile kaum noch überschaubaren Literatur zum Themenfeld Globalisierung – Neoliberalismus – Marktwirtschaftskritik):

  • Maria Mies, Globalisierung von unten. Der Kampf gegen die wirtschaftliche Ungleichheit, Rotbuch-Verlag, Hamburg 2001
  • Thomas Frank, Das falsche Versprechen der New Economy. Wider die neoliberale Schönfärberei, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2001
  • Ruediger Dahlke, Woran krankt die Welt. Moderne Mythen gefährden unsere Zukunft, Bertelsmann Verlag, München 2001
  • Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung (Neuaufl.), zu Klampen Verlag, Lüneburg 2001
  • Robert Kurz, Schwarzbuch des Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Eichborn Verlag, Frankfurt 1999
  • Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1998
  • Pierre Bourdieu, Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 1998
  • Viviane Forrester, Der Terror der Ökonomie, Paul Zsolnay Verlag, München 1997
  • Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1997
  • Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (1961), Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1981

Informationen zu Attac:
Attac (Association pour une taxation des transactions financières pour l’aide aux citoyens – Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte) wurde 1998 in Frankreich gegründet und hat inzwischen ca. 50.000 Mitglieder in über 30 Industrie- und Entwicklungsländern; in Deutschland gehören dem Netzwerk mittlerweile 4000 vornehmlich jüngere Einzelpersonen und über hundert politische, kirchliche und entwicklungspolitische Gruppen und Organisationen an, die mit öffentlichen Veranstaltungen, Infomaterial, Aktionen und übers Internet für die Ziele der Organisation werben. Vor Ort gibt es deutschlandweit eine wachsende Anzahl von Regionalgruppen. Inhaltlich propagiert Attac z.B. die Einführung einer Steuer auf Gewinne aus Finanztransaktionen (Tobin-Steuer) zugunsten der ärmeren Länder. Attac versteht sich als kosmopolitisch und global operierende Initiative zur Selbsthilfe innerhalb des Netzwerks bislang vornehmlich regional oder national agierender Selbsthilfegruppierungen, die ihr Interesse traditionell auf die Beseitigung sozialer, ökologischer und politischer Missstände richten. Weitere Informationen über: www.attac.de

Adressen zur Erlassjahr-Kampagne: www.erlassjahr.de


Medienhinweise

  • FERIEN IN DER HEIMAT (VACANCES AU PAYS)
    Jean-Marie Teno, Kamerun, Frankreich, Deutschland 2000, 75 Min., Essayfilm
    Bezug: EZEF
  • INSEL DER BLUMEN (ILHA DAS FLORES)
    Jorge Furtado, Brasilien 1989, 15 Min., Kurzfilm
    Bezug: EZEF
  • LUMUMBA
    Raoul Peck, Frankreich, Belgien, Deutschland 2000, 112 Min., Farbe, Spielfilm
    Bezug: EZEF
  • LUMUMBA – TOD DES PROPHETEN
    Raoul Peck, BRD 1991, 68 Min., Dokumentarfilm
    Archiv: EZEF
  • DER MANN AUF DEM QUAI (L’HOMME SUR LES QUAIS)
    Raoul Peck, Haiti/Frankreich/Kanada 1993, 105 Min., Spielfilm
    Bezug: EZEF
  • DIE SEELE DES GELDES
    Peter Krieg, BRD 1987, 135 Min., Dokumentarfilm
    Archiv: EZEF
  • SEPTEMBERWEIZEN
    Peter Krieg, BRD 1980, 96 Min., Dokumentarfilm
    Archiv: EZEF

Autor:  Reinhard Middel
Februar 2002