Arbeitshilfe

Tödliche Hilfe

Assistence Mortelle
Dokumentarfilm von Raoul Peck
Haiti, Frankreich, USA, Belgien 2013, 100 Minuten, OmU

Inhalt
Am späten Nachmittag des 12. Januar 2010 wird Haiti von einem heftigen Erdbeben erschüttert: 316.000 Menschen kommen ums Leben, so die offizielle Schätzung der haitianischen Regierung, mehr als 1,5 Millionen werden obdachlos.
Die Hilfsbereitschaft für das ohnehin geplagte Land ist groß. Die nahen USA schicken Soldaten, die UN stocken die Friedenstruppe MINUSTAH auf, große und kleine Hilfsorganisationen fliegen Menschen und Material ein, Prominente werben um Spenden. Trotz der Notlage kommt so etwas wie Aufbruchstimmung auf, zumal Bill Clinton als UN-Sonderbeauftragter bald davon spricht, Haiti „besser wiederaufzubauen“.
Zu denen, die aus der haitianischen Diaspora kamen, gehört auch der Filmemacher Raoul Peck. Er beobachtet fast zwei Jahre mit der Kamera, was dieser Tsunami an Katastrophen- und bald auch Wiederaufbauhilfe mit Haiti und den Haitianern macht. Sein Urteil: Der gute Wille und das viele Geld haben am Ende mehr geschadet als genutzt, ihre Auswirkungen nennt er fatal.

Marginalisierung des Staates
Pecks Urteil fasst viele Einzelbeobachtungen zusammen. Seine Hauptkritik gilt der Missachtung des haitianischen Staates. Zwei der Protagonisten des Films, Haitis Premierminister Jean-Max Bellerive und Joséus Nader, der für die Hauptstadt Port-au-Prince im Bauministerium verantwortliche Ingenieur, nennen dafür immer wieder handfeste Beispiele.
Für die vordringliche Aufgabe der Trümmerbeseitigung braucht es schweres Gerät. Joséus Nader hat aber hat nur etwa 100 Männer und Frauen, einige Lastwagen und ein paar Bulldozer zur Verfügung.  Die Geberländer wollen nicht für die Räumung bezahlen, sagt Gabriel Verret, der haitianische Geschäftsführer der Wiederaufbaukommission. Und da, wo ausländische Organisationen räumen, geschieht das ohne Koordination, schildern Joséus Nader und Jean-Max Bellerive mit einigem Sarkasmus: Aus einem Kanal haben vier verschiedene NGOs Schutt geholt.
Bei allen Aktionen, so der Praktiker Nader, werde der haitianische Staat schlicht ignoriert. Von den Nothilfegeldern der internationalen Gemeinschaft geht nur gerade ein Prozent an die haitianische Regierung. Und auch bei der Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe läuft fast alles am staatlichen Finanzmanagement und Beschaffungswesen vorbei. So wie dem Ingenieur Nader fehlen auch dem Premierminister Bellerive Geld und Personal. Für fast alles muss er mit den Gebern, „Partnern“ und NGOs erst verhandeln. So kann er auch den Bürgerinnen und Bürgern bestimmte Leistungen nicht zusagen. Projektanträge der haitianischen Regierung, so Bellerive, werden umdefiniert; er spricht deutlich aus, dass die Grenze zwischen Hilfe und Einmischung sehr schmal ist.

„Die Gebergemeinschaft wechselt mitten in der Schlacht das Pferd“
Auch der amtierende Präsident René Préval beklagt, dass die Logistik der Hilfsindustrie die Lieferungen teuer machte und die örtliche Wirtschaft schädigte, dass z.B. Trinkwasser eingeflogen werde, während die Produzenten und Händler das lokal hergestellte nicht loswerden.  Er habe das nicht ändern können, sagt Préval, er müsse nehmen, was angeboten werde und sich dafür dankbar zeigen: „Wenn ich in einem starken Staat lebe, tritt das Ausland mir gegenüber nicht so auf. Aber mein Land ist schwach.“
Während der haitianische Staat bei der Katastrophen- und oft auch bei der Wiederaufbauhilfe umgangen und so weiter marginalisiert wird, mischt sich die internationale Gemeinschaft in die Politik des Landes ein. Das ist ein zweiter wichtiger Baustein des Films von Peck.
Persönlich und bitter wird es, als es um die Wahl des nächsten Präsidenten geht. Sie war eigentlich für Februar 2010 angesetzt, wurden aber auf Ende November verschoben. Dass der zunehmend unpopuläre Préval seinen Kandidaten Célestin mit einer teuren und aggressiven Kampagne durchzudrücken versucht, erzeugt Unwillen, er landet nur auf Platz zwei, dicht gefolgt von „Sweet Micky“ Martelly, einem bis dahin politisch nicht aktiven Sänger. Inmitten eines Klimas von Manipulationsvorwürfen, Gerüchten, Drohungen, Übergriffen und Furcht vor weiteren Unruhen übernimmt schließlich die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Nachzählung der abgegebenen Stimmen. Am Ende wird Célestin gedrängt, aufzugeben, die ehemalige First Lady Mirlande Maginat und Martelly gehen in die Stichwahl, Martelly wird neuer Präsident.
René Préval sieht nicht nur seinen Kandidaten, sondern auch sich selbst ausgegrenzt. Dass Ende November in der Kerngruppe der Geberländer, der OAS und der UN darüber gesprochen worden sei, Préval außer Landes zu fliegen, bestätigt der brasilianische Diplomat Ricardo Seitenfus, der die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Haiti vertreten hat.
Bei ihrem Besuch Ende Januar 2011 lässt Hilary Clinton keinen Zweifel daran, dass René Préval zu akzeptieren habe, was die OAS als Wahlergebnis ermittelt hat: dass er und sein Wunschkandidat aus dem Spiel sind. Wie schlecht die Beziehungen sind, wird schon zuvor bei der Gedenkfeier zum 1. Jahrestag des Bebens deutlich: Préval steht auf und geht, bevor Bill Clinton spricht. 

Der vielbeschäftigte Bill Clinton
Peck stellt Bill Clinton in seinem Film ein schlechtes Zeugnis aus. Der Mann der großen Worte („die beste Chance, die Haiti je hatte“) inszeniere vor allem sich selbst. Clinton ist gleich in fünffacher Funktion für und in Haiti aktiv.
Die von Clinton als Ko-Vorsitzendem mitgeleitete Interimskommission für den Wiederaufbau (IHRC) kommt organisatorisch nicht richtig vom Fleck, hat viel unerfahrenes (amerikanisches) Personal. Die Neuankömmlinge kommen mit immer neuen Konzepten, während Tatsachen verdrängt, Fehler nicht korrigiert und elementare Grundregeln für dauerhafte Entwicklung verletzt werden. Aus irgendwelchen Gründen betrachteten angereiste Helfer Haiti „als leere Folie, auf die man jede beliebige verrückte Idee projizieren“ könne, hat Priscilla Phelps, Wohnungsbauexpertin der Kommission und eine wichtige Protagonistin des Films, beobachtet.
Obwohl die Kommission paritätisch besetzt ist, trägt Suze Percy Filippini im Namen der zwölf haitianischen Mitglieder schon bei der vierten Sitzung deren bittere Enttäuschung vor: Sie würden nicht rechtzeitig  informiert und nicht angemessen beteiligt, spielten nur eine Statistenrolle. Auch James Patterson, der ehemalige Premierminister Jamaicas, vermisst jeden Sinn für Dringlichkeit. Im Oktober 2011 wird die Kommission sang- und klanglos aufgelöst.

Risiken und Nebenwirkungen
Im Film werden auch viele der Katastrophen- und Entwicklungshilfe inhärente Probleme angesprochen: neben der Eigenbrötelei und der fehlenden Koordination ist das der Drang zu „attraktiven“ Projekten, die sich bei Gebern und Spendern gut vorzeigen lassen. Alle wollen schnelle Erfolge, kaum jemand bringt die Geduld auf, zu fragen, was die Menschen eigentlich möchten und dann mit ihnen daran zu arbeiten.  Laura Graham, Stabschefin von Bill Clinton, bestätigt, dass die Geber das Räumen von Trümmern nicht „sexy“ finden, lieber schöne Bilder von Schulen mit Kindern und Häusern mit Familien liefern möchten. Dass jede Organisation überall ihr Logo draufpackt, nennt Peck „humanitäre Pornographie“.
Welchen Schaden temporäre Lösungen anrichten können, zeigt der Film am Beispiel der Umsiedlungen nach Corail Cesselesse.  Nach dem Beben ist jeder freie Platz der Stadt  von Notunterkünften für die 1,5 Millionen Obdachlosen besetzt, auch ein riesiger Golfplatz auf den Hügeln von Pétionville.  Wegen der zu erwartenden sintflutartigen Regenfälle sollen einige Tausend Menschen von dort umgesiedelt werden. 18 km von der Stadt entfernt wird dafür das sandige Gelände von Corail Cesselesse auserkoren. Am 10. April 2010 kommen die ersten Busse mit Tausenden „Freiwilligen“, denen man für den neuen Standort medizinische Versorgung, Schulen und sogar die Aussicht auf einen Arbeitsplatz versprochen hatte.
„Es ist alles da, Geld, technische Mittel, ein Minimum an politischem Willen, Dringlichkeit, Führungskraft - eine unschlagbare Kombination“ (Peck). Zur feierlichen Eröffnung sind denn auch alle da - die „Internationalen“, der Präsident und der amerikanische Schauspieler Sean Penn, der sich in Pétionville engagiert, für den Umzug geworben und ihn mit organisiert hat.
Doch bald macht sich Unzufriedenheit breit. Die temporären Unterkünfte (T-Shelter) sind schlecht gebaut, erläutert Pierre Sanon, der sich in der Lagerverwaltung engagiert, bieten keinen ausreichenden Schutz vor Regen und Hitze und als Einraumhäuschen aus Sperrholz auch kaum Rückzugsmöglichkeiten. Es gibt keinen Wasseranschluss und keine Küche, nichts, was so eine Behausung wohnlich machen könnte.

Die Ökonomie der Hilfe schafft falsche Anreize
Statt an temporären Strukturen aus dem Baukasten der Hilfsindustrie hätte man lieber mit den Haitianern Häuser bauen sollen. Jean-Max Bellerive und sein Berater Raymond Lafontant erklären, dass ihre Landsleute „nicht dumm“ seien und die Geduld für eine mittelfristige, aber stabile Lösung aufbringen würden. Das für die T-Shelter ausgegebene Geld hätte auch für bescheidene Häuser gereicht.  Wie das hätte gehen können, zeigt der Film am Beispiel des Hauses des Lehrers Paul Nemours und in der Zusammenarbeit des US-amerikanischen Ingenieurs Kit Miyamato mit haitianischen Handwerkern.
Weil aber so viel Aufwand in Corail Cesselesse betrieben wird, entsteht der Eindruck, dass dort etwas zu haben oder zu holen ist und angeblich Arbeitsplätze entstehen sollen. Deshalb siedeln sich in Windeseile immer mehr Leute an. Doch das Gebiet bietet weder Schutz gegen die heftigen Windböen und Regenfälle, noch gibt es hier irgendeine Möglichkeit, sich zu beschäftigen und Geld zu verdienen.
Das Übergangslager Corail Cesselesse wird zu einem drastischen Beispiel für die Risiken und Nebenwirkungen, für die unbeabsichtigten Folgen beim Übergang von der Katastrophen- zur Entwicklungshilfe. Wo vorübergehend Menschen untergebracht sein wollten, entwickelt sich das größte Slumgebiet von Port-au-Prince. Das eingesetzte Geld schafft eine eigene Ökonomie, kriminelle Aktivitäten bei Land- und Hausvergabe inbegriffen.

Lieber Geld statt gute Worte
Zu den Schlussfolgerungen Pecks gehört deshalb die Überlegung, ob es nicht sinnvoller sei, das zur Verfügung stehende Geld an die Leute direkt auszuzahlen, wie es der Ingenieur Lafontant schon anhand der Kosten von 2000 bis 3000 US-Dollar für ein temporäres Sperrholzhaus vorgerechnet hat. Auch Haitis früherer Präsident Préval und die US-amerikanische Wohnungsbauexpertin Priscilla Phelps stellen solche Überlegungen an.
Mit ihren selbstkritischen Überlegungen benennt Frau Phelps weitere zentrale Schwächen der Entwicklungszusammenarbeit: einfach mit Geld zu werfen, wenn das richtige Stichwort falle („Arbeitsplatzbeschaffung“), und gutwillige, aber unerfahrene Leute auf die Haitianer loszulassen. Die in die Einöde von Corail Cesselesse verfrachteten Obdachlosen werden mit viel schönen Worten aus dem Vorrat angeblich partizipatorischer Entwicklungszusammenarbeit bedacht, während ihre drängenden Fragen nicht willkommen sind.

Weniger ist mehr
Der pragmatische Jean-Max Bellerive stellt am Ende die internationale Hilfe überhaupt infrage: Das ganze Haiti entspreche nur einer sehr großen Stadt in der Welt und es seien so viele Geber und Helfer präsent, dass man sich fragen müsse, wenn sie schon in Haiti versagten und dem Land nicht helfen könnten, ob sie dann überhaupt irgendwo Probleme lösen könnten.
Raul Peck selbst formuliert die Kritik noch schärfer: „Die Diktatur der Aufbauhilfe ist brutal, willkürlich, blind und selbstherrlich. Ein paternalistisches Ungeheuer, das alles aus dem Weg räumt und so tut, als würde es die Probleme lösen, die es selbst am Leben erhält.“  Sie solle endlich aufhören, Versprechungen zu machen: Manchmal müsse man damit auch einfach aufhören können. Vor allem müsse man aufhören, so zu tun als ob. 

Würdigung und Kritik
Man möchte eigentlich nicht hören, was die Quintessenz dieses Filmes ist: Die massive Hilfe hat Haiti mehr geschadet als genützt. Da ist ein ohnehin armes und von einem Erdbeben verwüstetes Land, um ihm zu helfen, macht die internationale Gemeinschaft auf spektakuläre Weise mobil. Es hagelt Geldzusagen, Prominente werben Spenden ein, die US-Armee kommt mit ihrer Logistik, die Profis der Katastrophenhilfe schicken Ärzte, Zelte und Decken,  große und kleine Entwicklungsorganisationen machen sich an den Wiederaufbau. Das ist Haitis Chance, verkündet Bill Clinton. Da muss sich doch etwas zum Besseren wenden lassen.
Doch man kann sich Raul Pecks Erkenntnissen nicht entziehen. Das ist zunächst das Verdienst einer Langzeitbeobachtung von zwei Jahren. Die meisten Filme über Hilfe entstehen unter aktuellem Druck oder gar auf Einladung von Hilfsorganisationen. Pecks Film ist allein deshalb sehens- und vor allem bedenkenswert. Ihm ist auch weitgehend gelungen, was er sich vorgenommen hat: nicht eine vorgefasste These zu illustrieren, sondern als Beobachter zuzuhören und zuzusehen. So scharf manche Formulierungen und sein Gesamturteil sind, sie basieren auf freundlicher Annäherung.
Es ist zweitens die Wirkung der Perspektive, die er gewählt hat: Haitianer als Akteure und nicht als Opfer in den Blick zu nehmen. Eine Frau steuert einen Bagger, Männer räumen Schutt, eine gut organisierte Müllverwertung schafft Arbeitsplätze und erwirtschaftet Exporterlöse, obdachlos Gewordene führen ein geordnetes Leben, engagieren sich für gemeinsame Anliegen. Der „schwache Staat“ Haiti hat einen tatkräftigen Ingenieur im Ministerium, der welterfahrene Premierminister kann gut auf den Begriff bringen, was da in seinem Land gerade abgeht.
Das ermöglicht einen relativierenden Blick auf die Hilfsindustrie: ihren Drang zur Selbstdarstellung, die ständigen Sitzungen, den Bazar der importierten Patentlösungen, das von außen übergestülpte Partizipationsritual. Die Relativierung erfolgt durch den Kontrast mit den haitianischen Akteuren und den Kontext, in dem die eingeflogenen Helfer arbeiten. Ihr guter Wille wird von niemandem in Frage gestellt, es sind die Logiken ihrer Maschinerie, die ihre Tätigkeit so problematisch macht. Einige von ihnen gestehen die daraus resultierenden Versäumnisse und Fehler selbst ein.
Die Langzeitbeobachtung auf mehreren Ebenen und mit mehreren Teams verlangt dem Zuschauer einiges ab: Er lernt viele Personen kennen, auch wenn einige Protagonisten immer wieder auftauchen. Manchmal aber fehlen Kontinuität und Kontext. Nicht bei allen Passagen wird klar, welchen Stellenwert sie haben und was sie zur Argumentation des Films beitragen. Ein Beispiel dafür ist die Rückkehr des ehemaligen Diktators „Baby Doc“, ein Gespenst aus einer bösen Vergangenheit für die einen, eine Attraktion für die anderen.
Ähnlich ist es mit der Demontage des Präsidenten Préval, die breiten Raum einnimmt und in einigen Formulierungen wie eine Verschwörung dargestellt wird. Da Peck darauf verzichtet, das Entwicklungs“modell“ der USA für Haiti (und die hoch problematische Verwendung von Hilfsgeldern für einen großen Industriepark) zu thematisieren, wirken diese Passagen eher wie ein Fremdkörper. Hinzu kommt, dass die Präsidentschaftswahlen als solche sehr problematisch waren und der Abstand zwischen Prévals Kandidaten und dem bei der Jugend populären Sänger sehr gering war.
Dem nur allzu berechtigten Bemühen, die Haitianer, ihre Behörden und ihre Repräsentanten sichtbar zu machen und zu Wort kommen zu lassen,  steht keine Kritik der politischen Klasse und des Staates gegenüber. Die aber wird als Rechtfertigung dafür angeführt, dass die Hilfsindustrie bevorzugt am Staat vorbei agiert. Schon vor dem Beben galt Haiti als „Republik der NGOs“.
Für die Verbindung einzelner Passagen und die Reflexion über die Tätigkeit der ins Land geströmten Ausländer  hat Peck essayistische Passagen in Form eines Briefwechsels gewählt. In dem Dialog tauscht sich das alter ego des haitianischen Filmemachers mit einer zunehmend enttäuschten Helferin aus, die nun abreisen wird. Kluge Gedanken werden da formuliert, bittere Einsichten ausgesprochen und auch manch poetische Stimmungen transportiert.  So gelungen das im Einzelnen ist, als Zuschauerin möchte man den Film dann ganz einfach anhalten und noch mal zurückspulen können.
Dieser komplexe Film ist zutiefst beunruhigend. Wer sein Wunschdenken, seinen eigenen „humanitären Komplex“ überwindet und sich auf die Argumente einlässt, wird bald feststellen, dass Peck mit seiner Kritik keineswegs allein steht, dass es eine Fülle von Literatur gibt, die bestätigt, was er dokumentiert hat: Dass aus dem ungeheuren goodwill und den beachtlichen Summen nicht nur keine nennenswerten Entwicklungserfolge resultieren, sondern dass die Hilfe ihrerseits zum Problem werden kann. Anders als immer wieder behauptet ist sie keineswegs immer Hilfe zur Selbsthilfe, sondern hat längst eine Eigenlogik. In 60 Jahren Hilfe hat sich ein entwicklungspolitisch-industrieller Komplex gebildet, der seine Legitimation aus der Not der Welt bezieht, aber längst auch aus eigenem Selbsterhaltungsinteresse handelt.

Hintergrundinformationen
Kleine Geschichte Haitis
Die französische Kolonie Saint-Domingue war im 18. Jahrhundert außerordentlich produktiv, die profitabelste Plantagenwirtschaft der Welt und das Rückgrat des französischen Außenhandels. Die „Perle der Antillen“ lieferte u.a. Kaffee und Zucker nach Europa.
Hunderttausende Afrikaner wurden als Arbeitskräfte in die Sklaverei nach Haiti verschleppt. Sie  revoltierten 1791 gegen die koloniale Unterdrückung und proklamierten 1804 als „Erster Freier Negerstaat“ die Unabhängigkeit.
Während die wirtschaftlich starke Minderheit der Mulatten und die militärisch starke Elite der schwarzen Bevölkerung um die Macht kämpften und sich die Lage der Bevölkerung kaum änderte, begann der wirtschaftliche Niedergang.
Nach mehreren Rückeroberungsversuchen erkannte 1825 auch Frankreich die Unabhängigkeit an, ließ sich das aber mit 150 Millionen Franc „Entschädigung“ für die ehemaligen Plantagenbesitzer bezahlen. Der Betrag wurde später auf 60 Millionen herabgesetzt, an der Schuldenlast hatte das Land aber trotzdem bis 1947 zu tragen.
1915 besetzten die USA Haiti. Während ihrer 19-jährigen Herrschaft begünstigten sie die hellhäutigen Händler, darunter levantinische Einwanderer, bauten eine Armee auf, brachten aber durch ihren rassischen Hochmut und die Repression viele Haitianer gegen sich auf.
1957 wurde der Arzt François Duvalier mit Hilfe des Militärs zum Präsidenten gewählt. „Papa Doc“ wusste die Animositäten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen untereinander, aufgestaute Wut und die nationalistische Strömung zu seinen Gunsten zu lenken. Unter Verweis auf die kubanische Revolution nutzte er das beginnende Zeitalter der Entwicklungshilfe, um Geld aus dem Ausland einzutreiben. Die Bevölkerung blieb arm, während er und sein Familienclan sich schamlos bereicherten und ihre  Herrschaft durch die berüchtigten Tonton Macoute absicherten.
Nach Duvalier Tod 1971 ließ sich sein Playboy-Sohn Jean-Claude zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen. Unter dem Einfluss von Baby Docs haitianischen und US-amerikanischen Beratern wurden in den siebziger Jahren Textilbetriebe gegründet: Mit Niedriglöhnen sollte das Land zum Produzenten für den US-Markt und zum „Taiwan der Karibik“ werden. Doch im Gefolge der politischen Turbulenzen brach der Sektor zusammen. Haiti blieb weiter das Armenhaus der Karibik.
Baby Doc wurde 1986 gestürzt und ging mit viel Geld ins französische Exil. Haiti schien eine andere Entwicklung zu nehmen, als 1990 der „Armenpriester“ Jean-Bertrand Aristide zum Präsidenten gewählt wurde. In dieser  chaotischen Zeit – Putsch/Flucht (1991), US-gestützte Rückkehr 1994 – entsandten die Vereinten Nationen eine erste Friedensmission.
1996 wurde René Preval, unter Aristide Premierminister, zum Präsidenten gewählt. Während seiner Regierungszeit flossen große Mengen Entwicklungshilfe ins Land, weniger an die Regierung  und zunehmend über  Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Unter der zweiten Regierung Aristide (2000 bis 2004) wurden Gelder eingefroren, der Präsident schließlich wieder gestürzt und von einem amerikanischen Flugzeug in die Zentralamerikanische Republik geflogen. Nach einer Übergangszeit wählten die Haitianer Préval 2006 erneut zum Präsidenten.
Stark bestimmt wird die Situation in Haiti durch die Stationierung von UN-Truppen (seit 2004: MINUSTAH mit knapp 10 000 Personen) zur „Stabilisierung“ und die Präsenz von NGOs (geschätzt einige Tausend ) zur „Entwicklung“. Die Parallelwelt der Nichtregierungsorganisation hat Haiti den Ruf eingetragen, eine Republik der NGOs zu sein. Nur ein ganz geringer Prozentsatz des vom Ausland bereitgestellten Geldes wird an die haitianische Regierung vergeben.
Die wegen des Erbebens verschobenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen fanden am 28. November 2010 statt. Ihre Glaubwürdigkeit litt unter organisatorischen Mängeln, sehr geringer Wahlbeteiligung und Manipulationsvorwürfen, es kam zu Unruhen. Den Kandidaten der Regierungspartei, Jude Célestin, und den vor allem bei der Jugend populären Sänger Michel Martelly  trennten auf Platz 2 und 3 nur wenige Stimmen. Am Ende legte die Organisation amerikanischen Staaten (OAS) fest, dass Martelly vor Célestin liegt und in die Stichwahl mit der erstplatzierten Mirlande Manigat geht.
Martelly („Sweet Micky“) gewinnt die Stichwahl mit zwei Dritteln der Stimmen und wird 2011 zum Präsidenten gewählt. Er erklärt, dass das Land „Open for Business“ ist und verfolgt, wie auch mit großen Fanfaren das Ehepaar Clinton, erneut die Strategie der Einrichtung von Industrieparks, für die ein Teil der nach dem Erdbeben zugesagten Aufbaumittel verwendet werden.  Doch außer dem südkoreanischen Investor  Sae-A Trading Co. Ltd zeigt trotz der niedrig gehaltenen Löhne und eingeräumten Steuerfreiheit kaum jemand Interesse.

Heillose Hilfe
„Die internationale Gemeinschaft engagiert sich in Haiti seit langem. Haiti ist eines der Länder mit der höchsten Pro-Kopf-Entwicklungshilfe und war dies schon vor dem Erdbeben 2010. Nach dem Beben hat die internationale Gemeinschaft nach Angaben des Büros des UN-Sondergesandten für Haiti, Bill Clinton, für 2010–2012 öffentliche Hilfe (ohne Schuldenerlass) in Höhe von 10,37 Mrd. US$ zugesagt. Davon entfallen 2,57 Mrd. US$ auf humanitäre Hilfe als Reaktion auf das Erdbeben und die Choleraepidemie und 7,8 Mrd. US$ auf Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe. Hinzu kommen mindestens 3 Mrd. US-$ private Spenden an ausländische Nichtregierungsorganisationen (NROs) und UN-Einrichtungen zugunsten von Haiti. Zusammen entspricht dies mehr als dem Bruttoinlandsprodukt des Landes von ca. 12 Mrd. US$ im Jahr 2011.
Die für 2010–2012 von Regierungen zugesagte humanitäre Hilfe wurde immerhin zu 94 % ausgezahlt. Auszahlung bedeutet dabei die Überweisung an eine Durchführungsorganisation, jedoch noch nicht notwendigerweise den Abschluss einer Maßnahme. Finanziert wurden in erster Linie medizinische Betreuung, Nahrungsmittelhilfe und Bereitstellung von Notunterkünften. Vielen Menschen konnte so geholfen werden. Anders sieht es bei der Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe aus, die nach dem Versprechen der internationalen Geberkonferenz für Haiti vom März 2010 in New York „eine neue Zukunft“ für das Land begründen sollte. Von den für 2010–2012 insgesamt zugesagten Mitteln von 7,8 Mrd. US$ wurden erst 51 % ausgezahlt. Bei der haitianischen Bevölkerung macht sich trotz einiger Verbesserungen (z. B. bei der materiellen Infrastruktur) Enttäuschung über die langsamen Fortschritte breit.
Schwerer wiegt, dass der größte Teil der Auszahlungen 2010–2012 außerhalb des staatlichen Finanzmanagements und Beschaffungswesens Haitis, d. h. an der Regierung vorbei, erfolgt ist. Bei der humanitären Hilfe waren dies 99 %, bei der Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe 86 %. Multilaterale Geber haben die staatlichen Systeme stärker genutzt als bilaterale Geber.“ (Guido Ashoff (DIE): Die internationale Hilfe läuft Gefahr die Partner zu ersetzen statt zu stärken, 25.2.2013)
„Wie die Milliarden verteilt werden, bestimmen die Geberländer. In Haiti sind dies vor allem die Regierungen der USA, Kanadas und Frankreichs sowie die EU. Nach dem Erdbeben, als der übliche Helferstrom nach Haiti enorm anwuchs, kamen in Haiti Dutzende weitere Geberregierungen und internationale NGO hinzu, die ebenfalls über ihr eigenes Geld verfügten.
Der haitianische Staat bekommt von diesen Mitteln nur einen Bruchteil. Nicht mehr als 1 Prozent aller Nothilfefonds und ungefähr 10 Prozent aller Fonds für Haitis Wiederaufbau (insgesamt gut 5 Milliarden Dollar) ließen die Geber in den haitianischen Staat und in den haitianischen öffentlichen Sektor Fließen. Der Löwenanteil landete auf den Bankkonten internationaler NGO, der Weltbank, der Vereinten Nationen, der Inter-American Development Bank, westlicher Bauunternehmen und Consultingfirmen. Wie diese Gelder investiert wurden, wissen nur die Organisationen und Institutionen selbst. Die haitianische Regierung hingegen weiß nicht einmal, wie viele  NGO eigentlich im Land tätig sind. Laut UNO waren es vor dem Erdbeben schon um die 10 000.“ (Linda Polman: Zwischen Pest und Cholera, NZZ Folio 9/2013)
„Das Wegräumen von 20 Millionen Kubikmetern Trümmern zum Beispiel: «Keinen Cent haben die Geber da hineingesteckt“, sagt der haitianische Jurist Gary Lissade, „denn auf geräumte Trümmer kann man keine Werbesticker heften. Geber wollen Ehre für ihr Geld. Sie wollen, dass die Welt weiß: Ich war es, der diese Millionen gegeben hat! Ich!»“ (Linda Polman: Zwischen Pest und Cholera, NZZ-Folio 9/2013)

René Preval
René Garcia Préval war zehn Jahre Präsident Haitis (1996-2001 und 2006-2011), eine direkte Wiederwahl erlaubt die Verfassung nicht. Er wurde am 17. Januar 1943 in Haiti geboren. Sein Vater war in den fünfziger Jahren Landwirtschaftsminister, der Sohn studierte Agrarwirtschaft in Belgien.
Unter der Diktatur von François Duvalier musste die Familie das Land verlassen. Nach einigen Jahren in Brooklyn/New York kehrte Préval 1975 nach Haiti zurück, arbeitete in einem Institut der Regierung. 1988 eröffnete er in Port-au-Prince eine Großbäckerei und wurde Mitstreiter des charismatischen Priesters Jean-Bertrand Aristide.
Aristide ernannte seinen Freund 1991 zum Premierminister, beide mussten aber nach einem Militärputsch das Land verlassen. 1994 sorgte US-Präsident Clinton für die Rückkehr zu einer verfassungsmäßigen Ordnung; am 17. Dezember 1995 wurde Préval zum Präsidenten gewählt und blieb die vollen fünf Jahre im Amt. 2006 trat er als unabhängiger Kandidat erneut an, versuchte sich von Aristides Fanmi-Lavalas-Bewegung zu distanzieren und  konnte das Land in seiner zweiten Amtszeit (2006 bis 2011) auch mit Hilfe der Präsenz von UN-Truppen stabilisieren.
Der Agronom Préval war überzeugt, dass sein Land nur dann ökonomisch auf die Beine komme, wenn es mehr Nahrung für den eigenen Bedarf produziert und nicht weiter fast alle Lebensmittel importiert. Préval hat früh gesehen,  dass Wellen der Hilfsbereitschaft ihre eigenen Verwüstungen hinterlassen. Seine Besorgnis darüber trug er bereits am 26. September 2008 der Vollversammlung der Vereinten Nationen vor: „Mich beunruhigt, dass wir, sobald  die erste Welle der Solidarität und des Mitgefühls verebbt ist, wohl erneut allein dastehen werden – und damit meine ich wahrhaft allein –, um mit künftigen Katastrophen fertig zu werden. Währenddessen laufen, wie in einem Ritual, neue Mobilisierungsbemühungen an.“
Dass Préval sich nach dem Erdbeben nicht an seine Landsleute wandte und auch in der Folgezeit praktisch nicht präsent war, sondern herumlief „wie ein geprügelter Hund“, so die amerikanische Haiti-Expertin Amy Wilentz, nahmen ihm die Haitianer und viele internationale Beobachter übel. Und dass er 2010/2011 seinen Kandidaten Jude Célestin mit viel Geld und aller Macht zum Nachfolger wählen lassen wollte, kostete ihn den letzten Rest von Ansehen. Am Ende musste er die Entscheidung der Organisation Amerikanischer Staaten über die  Stichwahl ohne Célestin hinnehmen – eine bittere Lektion in Realpolitik, so Amy Wilentz.

Urteile über Préval:
„Im Vergleich zu vielen seiner Vorgänger im Präsidentenamt, von den Duvalier-Diktatoren „Papa Doc“ und „Baby Doc“ bis zum gefallenen Armenpriester Aristide, war Préval für Haiti ein Glücksfall. Doch vor der Herausforderung einer historischen Katastrophe hat er versagt. Statt dem Volk in der Not Mut zuzusprechen, Führungskraft zu zeigen und den Toten ein würdiges Massenbegräbnis zu sichern, verkroch sich der Präsident in den Trümmern seines eingestürzten Palastes.“ (Matthias Rüb, FAZ v. 27.11.2010)
„Keine Regierung würde unter diesen Umständen eine besonders gute Figur machen. Aber Haitis Präsident René Préval, der nach zwei Amtszeiten nicht wieder kandidieren darf, hat mit seiner monatelangen Schockstarre bei der Bevölkerung fast jedes Ansehen verloren.“ (Andrea Böhm, ZEIT v. 25.11.2010)
„Als Jude Célestin, der Kandidat, den er protegiert hatte, von der Stichwahl ausgeschlossen wurde, dämmerte es René Préval, dass er nicht Herr des Verfahrens war. Bis zum Tag der Wahl hatte man ihn glauben gemacht, dass das die Wahl seines Kandidaten sei, aber am Ende hat sich die internationale Gemeinschaft gegen ihn gestellt. Préval, zu dessen großen Qualitäten seine Dickköpfigkeit gehört, stellte sich zunächst stur und weigerte sich, die Entscheidung der OAS zu akzeptieren.“ (Amy Wilentz, The Nation v. 27.1.2011)
„Sein Hauptziel ist es, den Übergang zum nächsten Präsidenten so zu lenken, dass sichergestellt ist, dass man ihn unbehelligt weiter in Haiti leben lässt – ganz gleich, wer gewählt wird.“ ´(Janet Sanderson, US-Botschafterin in Haiti 2009 vertraulich an die Regierung in Washington, durch WikiLeaks veröffentlicht)

Corail Cesselesse – Die Brache als Endstation
„Ich bin mit unseren Ingenieuren dahin gefahren, und wir alle waren perplex: „Was ist das denn? Das sieht hier aus wie im Tschad“, erinnert sich Julie Schindall, eine Sprecherin für OXFAM, die Organisation, die sich verpflichtet hatte, Latrinen zu bauen und Corail mit Wasser zu versorgen.
Am 1. Jahrestag des Bebens, war die Bevölkerung dieser einstigen Brache auf mehr als 100 000 Menschen angewachsen. Das Gebiet von Corail ist nun eine der zehn größten Städte des Landes und gleichzeitig ihr größtes und armseligstes Lager, eine bittere Ironie, die niemand entgeht, der sich, hier mit Hilfsleistungen engagiert hat. „Corail – das sind eine Unmenge Leute in prekären Umständen, ohne sichere Unterkunft, die nicht wissen, was in Zukunft aus ihnen wird“, sagt Schindall. „ Das ist das ganze Dilemma Haitis nach dem Beben“. (Janet Reitman: Beyond Relief: How the World Failed Haiti, Rolling Stone, 4.8.2011)
„Trotz der Kontroversen haben humanitäre Organisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM), World Vision und das American Refugee Committee (ARC) zusammen über 10 Millionen US-Dollar ausgegeben, um ungefähr 1500 kleine Häuser, Schulen, Spielplätze, Latrinen und solarbetriebene Straßenlampen zu errichten.“ (Haiti Grassroots Watch, 19.6.2013)
„Einer Evaluierung der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften zufolge wurde die Versorgung mit temporären Unterkünften mehr vom Angebot als von der Nachfrage bestimmt. Der Bericht hielt fest, dass die Entscheidung, dem Bau der T-shelter Vorrang zu geben vor der Reparatur von Häusern oder der Zahlung von Mietzuschüssen, im Wesentlichen auf ihren mitgebrachten Kenntnissen, der angenommenen vergleichsweise einfachen Umsetzung, der Kontrolle des Ergebnisses, Fragen der Haftung und/oder der Sichtbarkeit bestimmt wurde. Sichtbarkeit für die Geber war ein besonders wichtiger Faktor. 
Die meisten der T-shelter sind aus wenig haltbarem Material zusammengeschustert, sie vergammeln deshalb schnell und sind außerdem eher für ländliches als städtisches Umfeld gedacht. Priscilla Phelps erklärt, was das heißt: „Sie sind für die Grundstücke zu groß und aus Material, das man nicht so einfach recyceln oder aufwerten kann. Für die ohnehin schon prekären Lebensverhältnisse in diesem Land sind sie deshalb nicht geeignet, und zu teuer sind sie auch.“ Sie schätzt die tatsächlichen Kosten für so ein Haus auf 6 000 bis 10 000 Dollar, nicht zwischen 2000 und 3000, wie die NGOs behaupten.“ (Linda Polman/Kathie Klarreich: The NGO Republic of Haiti, The Nation, October 2012) 

Über Raoul Peck
Geboren 1953 in Port-au-Prince, Haiti, aufgewachsen in Zaire und in den USA. Peck studierte in Frankreich, in den USA und an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Mit seinem Spielfilm „L‘homme sur les Quais“ präsentierte er 1993 den ersten Beitrag aus der Karibik im Wettbewerb von Cannes. Der Spielfilm „Sometimes in April“ über den Genozid in Ruanda lief im Wettbewerb der Berlinale. 1996/97 ist er Kulturminister in Haiti, ab 2000 für einige Jahre Präsident des französischen Fonds Sud. Seit 2010 steht er dem Leitungsgremium der Filmschule La Fémis in Paris vor. Viele seiner Filme erhielten zahlreiche internationale Auszeichnungen; für sein Gesamtwerk erhielt er den Irene Diamond Award, verliehen von Human Rights Watch.

Filmographie (Auswahl):
Dokumentarfilme/Essayfilme:
2012 Tödliche Hilfe (Assistence Mortelle)
2001 Profit, nichts als Profit (Le Profit et rien d'autre)
1997 Chère Catherine , Kurzfilm
1994 Haiti – Le silence des chiens
1991 Lumumba – Tod eines Propheten
Spielfilme:
2009 Moloch Tropical
2005 Sometimes in April
2000 Lumumba
1993 L‘homme sur les Quais
1988 Haitian Corner 

Didaktische Hinweise
Der mit 100 Minuten relativ lange Film behandelt ein komplexes Thema, enthält eine für manche verstörende Botschaft  und verlangt den Zuschauern auch einiges an Selbstreflexion ab. Es lohnt sich aber, sich dieser Anstrengung zu unterziehen.
Der Film eignet sich vor allem für Studierende mit Schwerpunkt humanitäre Hilfe bzw. Entwicklungspolitik, für ausreisende Entwicklungshelfer und Rückkehrer und für Fortbildungsveranstaltungen in Institutionen der internationalen Zusammenarbeit.
Er kann auch gut in Leistungskursen für Schüler und Veranstaltungen der Erwachsenenbildung und thematisch ausgerichteten Gemeindeabenden eingesetzt werden, wenn gewährleistet ist, dass anschließend ausführlich über den Film diskutiert und/oder die These in einer nachfolgenden Veranstaltung näher untersucht werden können.
Wichtig ist, dass ausreichend Zeit zur Verfügung steht und möglichst auch Expertise vorhanden ist, um das im Film aufgeblätterte Dilemma zu besprechen. Wie kann den Menschen in einer akuten Notsituation so geholfen werden, dass dabei kein Schaden entsteht und aus der Not- am Ende Entwicklungshilfe wird?
Das kann im Nachgespräch anhand der gemeinsamen Aufarbeitung der spontanen Reaktionen geschehen und – im besten Fall – in einer weiteren Stunde/Veranstaltung mit Referenten fortgesetzt werden.

Fragen zur Diskussion:
Zur Situation Haitis vor und nach dem Erdbeben

  • Was wussten die Zuschauer vor dem Erdbeben über Haiti?
  • Was bedeutet es, wenn ein Land einen „schwachen Staat“ hat?
  • Nichtregierungsorganisationen (NROs) arbeiten neben und manchmal gegen den Staat. Warum ist das so und welche Vorteile, aber auch welche Gefahren sind damit verbunden?

Was ist Katastrophenhilfe? Was ist Entwicklungshilfe bzw. Entwicklungspolitik?

  • Zur Begriffsklärung: Wo unterscheiden sich Katastrophen- und Entwicklungshilfe grundsätzlich? Wie lassen sie sich voneinander abgrenzen?
  • Wie kann man die Notwendigkeit des schnellen Handelns mit dem Gebot der Konsultation und Kooperation verbinden?
  • Was könnten Katastrophenhelfer tun, um die lokale Wirtschaft zu stärken? (welche Beispiele werden hierfür im Film genannt?)
  • Wie sollte die Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen untereinander abgestimmt werden?
  • Sind Militäreinsätze bei großen Katastrophen sinnvoll? Unter welchen Bedingungen?
  • Sollen die UN die Hilfseinsätze aus dem Ausland koordinieren? Warum hatten die UN nach dem Erdbeben eine Sonderrolle in Haiti?

Zum Übergang von Katastrophenhilfe zur Entwicklungshilfe

  • Was ist notwendig, damit Katastrophenhilfe, Wiederaufbau und Entwicklung fließend ineinander übergehen? Wo wird in „Tödliche Hilfe“ der Übergang von Katastrophen- zu Entwicklungshilfe thematisiert? Worin besteht die Kritik des Filmemachers?
  • Was muss das Gastland dazu beitragen, dass dieser Übergang gelingen kann? Was müssen die Hilfswerke dafür leisten? Was muss sich dafür in den institutionellen Abläufen und in der Spendenwerbung ändern?

Zur Rolle der Hilfswerke

  • Auch deutsche Hilfswerke haben in Haiti nach dem Erdbeben Hilfe geleistet. Was können Sie darüber in Erfahrung bringen?
  • Die Hilfswerke haben viel guten Willen, viel Erfahrung und sich vorgenommen, keinen Schaden anzurichten (do no harm). Woran liegt es, dass dennoch offensichtlich etwas schief läuft?
  • Viele Hilfswerke stellen sich selbst in ihrer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ein gutes Zeugnis für ihre Arbeit in Haiti aus. Wie verträgt sich das mit den Beobachtungen von Raoul Peck?
    … Gab und gibt es nicht auch gute Projekte? Nimmt auch der Film Bezug darauf?
    … Führt Spendeneinwerbung automatisch zu Beschönigungen? Worin liegen ggf. die strukturellen Gründe dafür?
  • Katastrophen sind heute Medienereignisse. Journalisten berichten darüber; Politiker und Prominente reagieren darauf; Hilfswerke richten Spendenaufrufe an die Öffentlichkeit. Worin ist hier die Kritik des Filmes begründet? Liegt es u.U. daran, dass sich die Hilfswerke  zu profilieren suchen? Was müsste sich ggf. in dieser Betriebsamkeit ändern?
    … Bei den Regierungen der „Geber“länder"
    … Bei den Vereinten Nationen
    … In der Berichterstattung der Journalisten
    … In der Spendenwerbung der Hilfsorganisationen
    … In der Rechenschaftslegung gegenüber Spendern und der Öffentlichkeit

Zur grundsätzlichen Kritik des Films

  • Die Entwicklungszusammenarbeit gibt es seit nunmehr 60 Jahren. In dieser Zeit ist eine eigene Hilfs“industrie“ mit festen Strukturen entstanden, die, wie alle Institutionen, einer eigenen Logik folgt, zu der auch die Selbsterhaltung gehört?
  • Ist es nicht an der Zeit
    … Weniger zu versprechen
    … Ehrlich Bilanz zu ziehen
    … Auch über Misserfolge zu berichten
    … Zu der ursprünglichen Intention, sich selbst überflüssig zu machen, zurückzukehren?
  • Welche Konsequenzen soll bzw. kann man für sich persönlich ziehen? (Diese Diskussion sollte auf jeden Fall angestoßen werden, wenn der Film nicht unter Fachleuten diskutiert wird, denn jeder Zuschauer reagiert anders auf diese Bilder, weil er eigene Erfahrungen und Motive für seine Spendenbereitschaft hat)
    … weiter spenden, denn man kann nicht zusehen, wenn Menschen in Not sind?
    … mehr kritische Fragen stellen und Rechenschaft einfordern?
    … es den Profis der Katastrophen- und der Entwicklungshilfe zu überlassen, die schon ihr Bestes geben werden?
    … es aushalten, dass es Naturkatastrophen und -kriege gibt und man am Leid der Menschen nicht viel ändern kann?
    … sich dafür einzusetzen, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnimmt?
    … Wie wirkt Spendenwerbung? (Eigene Beobachtungen, Reaktionen und Erfahrungen reflektieren)

Zur Machart und Gestaltung des Films
Der Film verzichtet auf direkte „Schreckensbilder“, ohne die Folgen des Erdbebens zu verharmlosen. Wie beurteilen Sie diese Art der filmischen Gestaltung? Welche Bilder haben Sie in Erinnerung aus der Berichterstattung unmittelbar nach dem Beben?
Wo übt der Filmemacher direkt Kritik? Welche Interviewpartner äußern sich kritisch? Zu welchen Aspekten? Wie ist deren jeweilige Interessenlage einzuschätzen?
Was geschieht bei Betrachtern durch die zwei Ebenen der Kommentierung? Ist immer klar zu unterscheiden, wo Fakten berichtet bzw. Ereignisse kommentiert werden und wo Peck seine persönlichen Eindrücke und seine bilanzierenden Betrachtungen im fiktiven Dialog mit einer ausländischen Helferin formuliert? Warum wählt Peck diese Form?
Weshalb spart der Film den Themenkomplex der Präsidentschaftswahlen nicht aus? Was kritisiert Peck hier am Verhalten der westlichen Staaten? 

Literatur
Die niederländische Journalistin Linda Polman setzt sich in ihrem Buch „Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfswerke“ (Frankfurt 2010) kritisch mit der internationalen humanitären Hilfe auseinander. Von ihr sind auch zwei Artikel zu Haiti erscheinen: „Hilflos in Haiti“ (Geo 1/2012) und „Zwischen Pest und Cholera“ (NZZ Folio 9/2013).

Jonathan M. Katz war Korrespondent der amerikanischen Nachrichtenagentur AP in Haiti und hat das Erdbeben dort überlebt. Sein gut geschriebenes Buch „The Big Truck That Went By. How the World Came to Save Haiti and Left Behind a Disaster” (New York 2013) geht kritisch mit der Hilfe ins Gericht und analysiert auch das politische Geschehen in Haiti vor und nach dem Beben.

Die ethnographische Studie von Mark Schuller „Killing with Kindness. Haiti, International Aid and NGOs“ (New Brunswick 2012) bilanziert am Beispiel zweier Frauenorganisationen, dass zwar von Partizipation gesprochen, am Ende aber Fremdbestimmung mit desaströsen Konsequenzen herausgekommen ist (trickle-down imperialism).

Die haitianische Schriftstellerin Yanick Lahens setzt sich in ihrem Buch „Und plötzlich tut sich der Boden auf. Haiti: 12. Januar 2010“ (Zürich 2011), einer Mischung aus fiktiven Elementen und gesellschaftspolitischen Analysen, kritisch mit dem Haiti-Bild des Auslands auseinander und fragt, ob die Hilfe dem Land nicht die letzte Würde raubt. „Wir wissen, dass uns die Hilfe nicht retten wird. In ihrer Logik steckt ein Denkfehler.“

Vijaya Ramachandran und Julie Walz vom Center for Global Development in Washington sind der Frage nachgegangen, wo das Haiti nach dem Erdbeben zugesagte Geld hingegangen ist („Haiti: Where has all the Money gone?“). Von den bis dahin vergebenen 6 Milliarden US-Dollar ging der weitaus größte Teil an die NGOs, deren Tätigkeit kaum transparent war und selten evaluiert wurde. Die Enttäuschung bei den Haitianern war groß (http://www.cgdev.org/publication/haiti-where-has-all-money-gone?)

Die amerikanische Autorin Amy Wilentz hat die Entwicklung Haitis seit 1986 verfolgt und nach „The Rainy Season: Haiti since Duvalier“ (New York  1989) mit  „Farewell, Fred Voodoo: A Letter from Haiti“ (New York 2013) eine kenntnisreiche große Reportage u.a. über die Hilfeinvasion nach dem Erdbeben geschrieben. Das Buch gehört zu den vom Schriftsteller Ben Fountain im „Guardian“ gerühmten zehn wichtigsten Büchern über Haiti (http://www.theguardian.com/books/2013/may/15/ben-fountain-top-10-haiti-books).

Der profilierteste deutschsprachige Publizist zu Haiti ist der Journalist und Schriftsteller Hans-Christoph Buch. Sein Roman „Die Hochzeit von Port-au Prince“ (Frankfurt 1984) erzählt u.a. vom autobiographischen Bezug des Autors und diplomatischen Verwicklungen Deutschlands. Sein Buch  „Haiti: Nachruf auf einen gescheiterten Staat“ (Berlin 2010) ist eine Collage aus historischen Texten, eingerahmt von zwei Beiträgen Buchs über die Situation nach dem Erdbeben und die neuere Geschichte.

Filmhinweise:
Haitian Corner
Regie: Raoul Peck, Deutschland, USA 1987, Spielfilm (OmU), 98 Min.
Bezug: EZEF
Lumumba
Regie: Raoul Peck, Frankreich, Deutschland, Haiti, Kongo 2000, Spielfilm, 112 Min., OmU
Bezug: EZEF
Der Mann auf dem Quai (L'Homme sur les Quais)
Regie: Raoul Peck; Haiti, Frankreich, Deutschland, Kanada 1993, Spielfilm, 105 Min., OmU
Bezug: EZEF
Moloch Tropical
Regie: Raoul Peck; Haiti, Frankreich, Deutschland 2010, Spielfilm, 107 Min., OmU
Bezug: EZEF
Profit, nichts als Profit (Le Profit et rien d'autre)
Regie: Raoul Peck; Haiti, Frankreich, Deutschland 2001, Filmessay, 57 Min., OmU
Bezug: EZEF

Autorin: Renate Wilke-Launer
Dezember 2013