Arbeitshilfe

Angst isst Seele auf

Kurzspielfilm von Shahbaz Noshir-Öz
Deutschland 2002, 13 Minuten
Der Film ist Teil der Kompilations-DVD "Respekt statt Rassismus"

Inhalt
Der farbige Schauspieler Mulu ist auf dem Weg zu seinem Auftritt in einem deutschen Provinztheater. Als er nach der Ankunft durch den Bahnhoftunnel geht, wird er von einer Gruppe Rechtsradikaler provoziert. Was als verbaler Streit beginnt, geht nach den Beleidigungen des Skinheads Hirschke in eine körperliche Auseinandersetzung über. Mulu wird zu Boden gerissen und von der Gruppe malträtiert. Keiner der umherstehenden Passanten hilft. Schließlich macht eine Polizeistreife dem blutigen Treiben ein Ende.
Während der Protokollaufnahme wird Mulu von Hirschke weiterhin verbal attackiert. Der Neonazi erhofft sich von den Polizisten stillschweigende Sympathie. Doch die beiden Beamten erledigen sachlich ihre Arbeit. Sie nehmen auf, dass Mulu deutscher Staatbürger ist und am Theater in einem Stück nach Rainer Werner Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“ spielt. Nach anfänglichem Zorn will Mulu weder eine Anzeige erstatten, noch sich ins Krankenhaus bringen lassen. Er nutzt die erstbeste Gelegenheit, um in das Theater zu kommen.
Hier wartet bereits seine Partnerin Emmi, gespielt von Brigitte Mira, auf der Bühne. Nach anfänglichem Erschrecken über Mulus Verletzungen spielen beide äußerst gefühlvoll jene Szene, in der sich die dreißig Jahre ältere Frau in den marokkanischen Gastarbeiter verliebt. Nachdem Mulu nach der Vorstellung wieder im Zug sitzt, hat er vom Regisseur überschwängliches Lob erhalten. Nachdenklich streut der Schauspieler seinen Premieren-Blumenstrauß aus dem Fenster.

Zum Film von Rainer Werner Fassbinder: „Angst essen Seele auf“ von 1974
Der vorliegende Film ist ausdrücklich R. W. Fassbinder gewidmet und bedient sich zahlreicher Zitate aus dessen Film „Angst essen Seele auf“. Er steht wie sein Vorbild für das Motto: „Glück ist nicht immer lustig“. Für das Verständnis des vorliegenden Films ist die Kenntnis der Fabel des Fassbinder-Films von Vorteil aber keine Voraussetzung:
Emmi, Ende 50, flüchtet vor heftigem Regen in ein Lokal. Hier lernt sie den weitaus jüngeren marokkanischen Gastarbeiter El Hedi Ben Salem, genannt Ali, kennen. Der fordert die einsame Witwe zum Tanz auf. Emmi spürt nach langer Zeit wieder Zärtlichkeit, und Ali ahnt, dass es auch in der Fremde für ihn Geborgenheit geben könnte. Nach einer Liebesnacht heiraten sie, stoßen aber auf aggressive Ablehnung. Emmi ist dem Druck nicht gewachsen und flüchtet in einen Urlaub. Nach ihrer Rückkehr haben sich die Wogen etwas geglättet. Meist aus Eigennutz wird nun die Beziehung zwischen Emmi und Ali toleriert.
Mit dem Wegfall des äußeren Drucks brechen die inneren Konflikte des ungewöhnlichen Liebesverhältnisses auf. Der Umgang mit dem Altersunterschied wird zum Problem. Doch als ein durchgebrochenes Magengeschwür Ali ins Krankenbett zwingt, findet Emmi die Kraft, ihm in der schweren Situation liebevoll beizustehen.

Gestaltung/Interpretation
Der Regisseur und Autor Shahbaz Noshir-Öz wurde 1959 im Iran geboren und lebt seit 1986 in Deutschland. Zwischen 1998 und 2000 spielte Noshir den Ali im Theater Meiningen in einer Inszenierung nach Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“. Dort wurde er auf dem Bahnhof von rechtsradikalen Jugendlichen zusammengeschlagen. Dieses Erlebnis im Kontext zu der thematisch dazu in Beziehung stehenden Theaterinszenierung hat Noshir im vorliegenden Film symbolisch verdichtet und aus sehr subjektiver Sicht als eine allgemeingültige Frage hinsichtlich unseres gegenwärtigen sozialen Zusammenlebens inszeniert.
Der Kameramann Jürgen Jürges, der bereits für Fassbinders Film 1974 sehr intensive Bilder für individuelle Sichten der Protagonisten gefunden hatte, führt hier dieses Gestaltungsprinzip zur absoluten Konsequenz. Durchgängig nimmt eine subjektive Kamera die Sicht der zentralen Figur ein, die niemals selbst ins Bild kommt. Der Zuschauer sieht das, was Mulu gerade im Blick hat. Damit wird er gezwungen, sich in dessen Position unmittelbar hineinzuversetzen. Es bleibt kein Platz für distanziertes Abwägen, es werden ganz persönliche Urteile provoziert.
Subjektive Kamera:
„Kameraposition, die suggeriert, vom exakten Standpunkt eines Protagonisten aufgenommen worden zu sein. Einzelne Einstellungen mit S.K. sind nicht ungewöhnlich, behalten aber immer etwas Auffälliges. Strikt subjektive Aufnahmen durchbrechen die meist gewahrte Zuschauerposition des allwissenden, aber unbemerkten Beobachters. ... Sie bewirken eine partielle Identifikation mit der Figur, deren Perspektive eingenommen wird, und sind geeignet, Ungewissheit und Bedrohung der Figur wiederzugeben.“ Rainer Rother (HG.), Sachlexikon Film, Reinbek bei Hamburg 1997
Über die Kamera wird eine Auswahl getroffen, die sowohl Mulus äußerliche Wahrnehmung kennzeichnet, aber viel mehr noch dessen innere Befindlichkeit erfasst. Unter diesem Gesichtspunkt kommt auch der Bildmontage ein hoher Stellenwert zu. Das wird besonders deutlich in jener Szene, in der Mulu zusammengeschlagen wird. Leiden, Angst, Schmerz, Wut - all diese Gefühle vermitteln die gestalteten Bilder über die Blickperspektive des Gepeinigten.
Wie bereits bei Fassbinder ist auch in der Adaption die Angst das zentrale Gefühl des Films. Aus dem Gefühl, kulturell nicht toleriert zu werden, aus dem Gedanken als Fremder stigmatisiert und abgelehnt zu werden, erwächst das Gefühl der Angst. Der schäbige Bahnhofstunnel spitzt die beängstigende Situation zu. Noch ehe die Neonazis auftauchen, fällt der Blick auf ein Plakat zu Roberto Benignis schwarzer Holocaust-Komödie „Das Leben ist schön“. Ohne direkt angesprochen zu sein, kommt der Nationalsozialismus in Erinnerung. Kurz danach geschieht der Überfall. Dumm und brutal wirken die Schläger und doch spiegelt sich auch in ihren Augen Angst wieder. Es sind verunsicherte Menschen, denen das Fremde Furcht bereitet. Als bohrende Frage für den Zuschauer bleiben in dieser Szene die Gesichter der tatenlos zusehenden Passanten in Erinnerung.
Die nächste Szene stellt eine sehr differenzierte Gesellschaftsstudie dar. Die beiden Polizisten bemühen sich darum, sachlich ihre Arbeit zu leisten.
Dennoch fällt es ihnen schwer, den farbigen Mulu selbstverständlich als Deutschen einzuordnen. In diesem Zusammenhang ist es auch amüsant, wenn einer der Polizeibeamten fragt, ob das 30 Jahre alte Stück „Angst essen Seele auf“ eine avantgardistische Arbeit sei. Der Satz selbst wird im Fassbinderfilm von Ali geprägt. Er meinte damit, dass Angst den Menschen zerstört, ihn nicht zu schöpferischer Entfaltung und zum Glück kommen lässt.
Was das bedeutet, wird in der Theaterszene mit Brigitte Mira deutlich. Als sie Mulu mit seinen Verletzungen entdeckt, fällt sie aus der Rolle. Doch der spielt seine Rolle und hilft damit der Partnerin auf der Bühne, aber auch sich selbst in seinem realen Leiden. Zärtlichkeit und Liebe besiegen den inneren und äußeren Schmerz.
Als Mulu wieder im Zug sitzt und vom Regisseur überschwänglich gelobt wird, streut er gedankenverloren Sonnenblumen aus dem Fenster. So wie im Stück könnte es sein. Doch die Erlebnisse auf dem Bahnhof haben gezeigt, dass es den Menschen offenbar schwer fällt, zu solcher Haltung zu finden. Doch, so hat es Fassbinders ausgedrückt: „... die Leute müssen ihre eigenen Veränderungsmöglichkeiten finden ...“

Zur Verwendung
„Angst isst Seele auf“ zeigt modellhafte Figuren in einer modellhaften Situation. Insofern stellt der Film vom Genre her ein klassisches Lehrstück dar. Über die zugespitzte Darstellung eines überschaubaren Sachverhalts wird der Zuschauer aufgefordert, Lehren abzuleiten und diese mit Blick auf seine eigene Lebenssituation zu überprüfen. Der konsequente Einsatz der subjektiven Kamera bringt dieses Anliegen explizit zum Ausdruck. Der Zuschauer wird in die Perspektive des Betroffenen, des Opfers bzw. des Fremden versetzt.
Ausgehend vom gemeinsamen Filmerlebnis lassen sich auf dieser Grundlage viele zentrale Momente des gesellschaftlichen Zusammenlebens diskutieren.

  • Zu den Themen Zivilcourage, Anti-Gewalttraining oder Friedenserziehung bietet insbesondere die Szene am Bahnhof gute Anknüpfungspunkte für Rollenspiele: Spielt die Szene in verschiedenen Variationen nach! Eine/r greift ein; oder: zwei tun sich zusammen und greifen ein; oder: wie kann man gegenüber dem Opfer reagieren, wenn man sich nicht getraut hat, direkt einzugreifen?
  • Freiheit und Gerechtigkeit gelten als Grundwerte der Zivilgesellschaft. Dabei heißt Freiheit auch, dass der frei Handelnde Verantwortung für sich und die Gesellschaft übernimmt. Toleranz und das Sicheinlassen auf das Fremde und die Fremden gehört dazu, ebenso wie Solidarität der Privilegierten mit den Unterprivilegierten, der Älteren mit den Jüngeren, der gesichert Lebenden mit Flüchtlingen und Verfolgten. (Nach Wolfgang Wunden in „6. Buckower Mediengespräche“ 2003)
  • Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 III der Generalversammlung der Vereinten Nationen 10. Dezember 1948 Präambel: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens der Welt bildet, da Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben, (...) verkündet die Generalversammlung die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (...)“.
  • Aus aktuellem Anlass besonders interessant, die amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969: „Jede Kriegspropaganda oder Befürwortung nationalen, rassistischen oder religiösen Hasses, die eine Anstiftung zu gesetzwidriger Gewalt (...) gegen irgendeine Person oder Gruppe von Personen aus irgendwelchen Gründen einschließlich solchen der Rasse, Hautfarbe, Religion, Sprache oder nationalen Herkunft beinhalten, sind gesetzlich unter Strafe zu stellen.“
  • Die Bergpredigt (Matthäus 5-7) formuliert zentrale Anknüpfungspunkte: Gottes Willen zu folgen bedeutet den Verzicht auf Hass, die Aufforderung zur uneingeschränkten Versöhnung, was auch den Verzicht auf Vergeltung und ein Dasein für den Feind impliziert.
  • Versöhnung - das Stichwort der Liebe (1 Johannes 4,7-10)


Hierzu können drei Fragenkomplexe erörtert werden:

  • Lebe ich versöhnt mit mir selbst?
    Spüre ich Frieden, wenn ich an mich selbst denke?
    Nehme ich mich an, so wie ich bin?
    Bin ich versöhnt mit mir, mit meinem ich – auch mit meiner Vergangenheit?
  • Lebe ich versöhnt mit meinen Mitmenschen?
    Ist alles vergeben, was ich anderen angetan oder eben nicht getan habe, was ich ihnen schuldig geblieben bin?
    Gibt es Menschen, denen ich nie mehr begegnen will?
    Mit wem lebe ich unversöhnt?
  • Lebe ich versöhnt mit Gott?
    Gibt es da Vorwürfe: Herr Gott, warum hast Du das zugelassen, warum hast Du mein Gebet nicht erhört?
    Groll, Wut, Angst, Enttäuschung? Gibt es diese oder ähnliche Gefühle oder Erinnerungen?
    (nach: Albrecht Fürst zu Castell-Castell in: Öffentlich Predigen, Gütersloher Verlagshaus 2000


Lernziele
Sich in die Situation eines Farbigen hineinversetzen; Vorurteile, Ungerechtigkeit und Gewalt aus seiner Perspektive erleben; nachempfinden, wie schwierig die Situation eines farbigen Deutschen ist; Ursachen und Folgen von Rassismus reflektieren; eine eigene Wertehaltung im Sinne von Toleranz und Mitmenschlichkeit entwickeln

Literatur

  • Bieg-Körber, Monika / Minarsch-Engisch, Josef / Schirmer, Mechthild: Fremd - oder was? Unterrichtsmaterial zum Thema Ausländer, Fremde, Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus (Grundschule und Sek I). Diakonisches Werk der evang. Kirche in Württemberg e.V. Stuttgart o.J. (1995)
  • Clemens, Karin / Albert, Dieter (Hg.): Du doitsch? Materialien zu Rechtsextremismus, Kolonialismus, Rassismus, Nationalismus und der Vielfalt deutscher Kultur. Publik-Forum Verlag. Oberursel 1991
  • Führing, Gisela / Lensing, Mechthild (Hg.): Was heißt hier fremd? Unterrichtsmaterial zum Thema Ausländerfeindlichkeit (Sek I). Cornelsen Verlag Berlin 1994


Medien
18 MINUTEN ZIVILCOURAGE
Rahim Shirmahd, BRD 1991
Dokumentarfilm, 20 Min., S/W

OTOMO
Frieder Schlaich, Deutschland 1999
Spielfilm, 85 Min.

PARALLELEN
Sawat Ghaleb, Deutschland 1995
Kurzspielfilm, 6 Min., S/W., deutsche Fassung, Video VHS
Teil der Kompilations-DVD "Bilder im Kopf - Klischees, Vorurteile, kulturelle Konflikte"


Autor: Klaus-Dieter Felsmann
Juli 2003