Arbeitshilfe

Im Oktober werden Wunder wahr

Octubre
Spielfilm von Daniel und Diego Vega
Peru 2010, 80 Minuten, OmU

Inhalt kurz

Die Komödie erzählt von den schwierigen Annäherungen zwischen Clemente und Sofia, beide mittleren Alters, die, jeder für sich, als Nachbarn in einem der ärmeren Stadtteile von Lima wohnen. Ihre Lebenssicht und ihre Lebensform weichen voneinander ab. Clemente ist Pfandleiher wie schon sein Vater, alle seine Lebensbezüge sind kommerzialisiert, er verweigert sich jeder menschlichen Nähe. Sofia lebt von Gelegenheitsjobs, sie leidet unter ihrer Einsamkeit und versucht eine Änderung ihrer Situation herbeizuführen. Er glaubt, dass das Leben durch den Kreislauf des Geldes bestimmt ist, sie glaubt an den „Señor de los milagros“, der vor allem im Monat Oktober zur Zeit der Prozessionen Wunder wirkt. Die Annäherung zwischen Sofia und Clemente wird durch ein Baby bewirkt, das eines Nachts in Clementes Wohnung abgestellt wird. Da sein durchorganisiertes Leben durch das Kind  in Unordnung gerät und ihm in seiner Arbeit als Pfandleiher Fehler unterlaufen, stellt er Sofia ein. Er will ein streng geregeltes Arbeitsverhältnis, sie will Liebe, sie will ein Leben in der Familie. Erzählt wird Clementes Lernprozess, der nur langsam begreift, dass die ökonomische Gesetzmäßigkeit nicht allein das menschliche Miteinander bestimmt.

Inhalt

Clemente, ein Mann mittleren Alters, lebt als Pfandleiher allein in einem der ärmeren Viertel von Lima. Er wird in seinem geregelten Alltag gezeigt, bei seinem Frühstück, bei seiner Arbeit. Sein „Büro“ ist in seine Wohnung integriert. Er leiht kleinere und größere Summen an Kunden, die ihm diese nach einer bestimmten Frist mit Zinsen zurückzuzahlen haben und die ihm ein Pfand, irgendeinen Wertgegenstand, als Sicherheit überlassen müssen. Clemente führt sorgfältig Buch über diese Geschäfte. Abends sucht er Prostituierte auf. Clementes Alltag ist geregelt durch ökonomische Tauschgeschäfte, menschliche Nähe gibt es in seinem Leben nicht.

Eines Nachts findet er seine Wohnungstür offen. Er vermutet Einbrecher, aber seine Geldkassette, die er im Herd versteckt hält, wurde nicht geraubt. Ein Baby in einer Einkaufstasche ist in seine Wohnung geschmuggelt worden. Clemente betreut, weil ihm nichts anderes übrig bleibt, das Baby, unternimmt aber sofort Versuche, es wieder aus seinem Leben zu entfernen. Er wendet sich an die zuständige Behörde, die ihn vor zwei Optionen stellt: Entweder er gebe es an ein Waisenhaus und lasse sich als Lebensretter feiern oder er behalte es bei sich und stelle sich seiner Verantwortung. Clemente bekennt sich in dem Film nie als Vater des Kindes, seine Version lautet, dass er das Kind auf der Straße gefunden und gerettet habe, während seine Umgebung ihn als den Vater des Säuglings sieht. Clemente macht sich auf die Suche  nach der Mutter des Kindes, um es an sie zurückzugeben. Diese Suche führt ihn erfolglos durch das Prostituierten-Milieu. Er wird durch falsche Informationen, für die er zahlen muss, in die Irre geschickt. In diesem Milieu entwickelt sich das Tauschgeschäft nachteilig für ihn. Aber auch in seiner Arbeit als Geldgeber unterlaufen ihm Unaufmerksamkeiten aufgrund seiner Beanspruchung durch das Baby. Ein Kunde betrügt ihn mit einem gefälschten Schein über 200 Soles. Clemente, der die Regeln für die Tauschgeschäfte diktiert und unerbittlich auf ihre Einhaltung pocht, wird zum Betrogenen. Viermal im Film versucht er den falschen Geldschein für eine Dienstleistung einzutauschen: Bei einer Taxifahrt, im Restaurant, im Bordell, in der Apotheke. Nach dem fünften missglückten Versuch zerreißt er den Schein.

Die Gegenspielerin Clementes ist seine Nachbarin Sofia, auch eine einsame Frau mittleren Alters. Sie wirbt um Clemente, er weist sie brüsk zurück, lässt sie nicht einmal als Kundin zu. Sie wird in ihrem Umfeld gezeigt: Betend vor  dem Schrein des „Gottes der Wunder“, als andächtige Teilnehmerin an den Prozessionen des „Señor de los Milagros“, in der Markthalle, wo sie die von ihr gebackenen Turrones verkauft, in freundschaftlichem Umgang mit Don Fico, der für sie Kreuzworträtsel löst. Clementes Leben ist ökonomisch definiert, er lebt einsam, verbittet sich alle menschliche Nähe. Sofia ist auch einsam. Sie sucht Zuflucht in der Religion, hofft auf ein Wunder, versucht aber auch selbst eine Änderung ihrer Situation herbeizuführen und kann menschliche Nähe gestalten.

Clemente, dessen Leben zwischen Baby, Arbeit und der Suche nach der Mutter des Babys aus dem Takt gerät, stellt Sofia als Babysitterin ein. Sie zieht mit ihrem Schrein in seine Wohnung. Er diktiert die Regeln des Zusammenlebens: Versorgung des Kindes gegen Bezahlung. Aber Sofia übernimmt die Gestaltung des Zusammenlebens: Sie versorgt und verwöhnt auch Clemente, sie bietet ihren Freunden Don Fico und seiner kranken Lebensgefährtin Rosa Gastrecht in Clementes Haus. Dieser verhält sich wie ein Fremder in seiner eigenen Wohnung, einer, der an die Seite gedrängt ist und die Eindringlinge duldet.

Noch einmal versucht er die Kontrolle zurückzuerlangen und seine frühere Lebensform zurückzugewinnen. Er engagiert einen seiner Schuldner, der seine Schulden nicht zurückzahlen kann, gegen den Erlass seiner Schulden und eine zusätzliche Prämie, in einem vorgetäuschten Überfall, das Kind zu entführen. Aber als der Helfershelfer kommt, ist Clemente bereits allein.

Sofia hat versucht, Clemente zu verführen, ist aber von ihm zurückgewiesen worden. Am folgenden Tag hat sie auf ihn gewartet, aber da er nicht kam, hat sie mit dem Kind die Wohnung verlassen. Clemente hat in der Zwischenzeit seine Prostituierte aufgesucht. Nach seinem sexuellen Versagen hat ihm die Prostituierte geraten: „Manchmal muss man Veränderungen zulassen.“ In der Apotheke hat er dann ein Parfum erstanden und ist mit dem Geschenk in seine Wohnung zurückgekehrt, die er leer vorfindet. Clemente versucht seinen Alltag wieder aufzunehmen, zu frühstücken, fernzusehen, zu schlafen. Es gelingt ihm nicht. Er mischt sich unter die Prozessionsteilnehmer – es ist die Hauptprozession, die am 18. Oktober stattfindet – er bahnt sich seinen Weg durch die Menge, in der Gegenrichtung. Sucht er Sofia? Im letzten Bild des Films wird sie gezeigt unter den Frauen, die einen weißen Spitzenschal tragen und andächtig  dem Bildnis des „Cristo moreno“ folgen.

Don Fico hat die wichtigste Nebenrolle im Film. Er ist ein Freund Sofias und ein Kunde Clementes. Aber, anders als dessen sonstige Kundschaft, deponiert er bei Clemente sein Geld, um es im geeigneten Moment zurückzufordern und sein Lebensziel zu verwirklichen. Er will die schwerkranke Frau, die er liebt, aus dem Krankenhaus befreien und mit ihr eine Autobusreise, fort von Lima, unternehmen. Hier steht das Geld also nicht für die Kommerzialisierung der Lebensbezüge, sondern ist das Mittel, um Träume zu erfüllen. So gelingt es auch Don Fico, Clemente von seiner Fixierung auf das Falschgeld zu lösen, das ihn an sein Versagen als Pfandleiher erinnert. Clemente bringt den falschen Geldschein nicht mehr in Umlauf, er zerreißt ihn.

Würdigung und Kritik

Es ist ein minimalistischer Film. Das wird zum einen in der sparsamen Erzählweise deutlich. Viele Fragen bleiben offen. Findet das angedeutete Happy-end statt, die Wiederbegegnung von Clemente und Sofia, ihre Rückkehr mit dem Baby in sein Haus? Wohin führt die Reise von Don Fico und seiner schwerkranken Rosa? Wie wird Clementes Deal mit seinem Schuldner aufgelöst, den er zur Entführung des Babys angestiftet hat?

Zum andern zeigt sich dieser Reduktionismus auch in dem Verzicht auf komödiantische Effekte, die der Plot nahe legt. Einem emotional verkrampften Mann wird ein Baby untergeschoben. Daraus könnten sich komische Szenen ergeben, auf die ein Regisseur, der auf das Amüsement der Zuschauer zielt, nicht verzichten würde.

Auch in der Dialogführung wird diese zurückhaltende Erzählweise deutlich. Es finden kaum Gespräche statt. Clemente beschränkt sich auf den Hinweis von Konditionen, die in den Geschäften zwischen ihm und seinen Kunden einzuhalten sind, die Sofia in ihrem Arbeitsverhältnis zu befolgen hat. Sofias Dialogverhalten ist ein anderes, aber ein Gespräch wird verhindert durch Clementes Verweigerung.

Auch verzichtet der Film auf die Hintergrundmusik. Der Zuschauer wird nicht in seinen Empfindungen gelenkt. Der Film zielt nicht auf Identifikation des Zuschauers mit den Protagonisten oder dem Filmgeschehen.

In dem Film geht es um die Darstellung mehrerer Themen. Zentral sind die Themen der Einsamkeit, des Geldes und der Frömmigkeit. Der Regisseur Diego Vega äußert sich in Bezug auf die europäische Rezeption des Films, er verstehe es vollkommen, „wenn in Mitteleuropa das Thema der Einsamkeit ins Zentrum gerückt werde“ (NZZ 14.10.2010). Die Protagonisten, Clemente und Sofia, sind einsam, aber während er in seiner Einsamkeit verharren will, versucht sie diese aufzubrechen. Clemente wird fast nur in Interieurs gezeigt, in seiner Wohnung, im Bordell, im Restaurant, in der Apotheke, im Taxi. Er geht nicht aus sich heraus, er ist verschlossen. Die Wiederholung der Szenen deutet darauf hin, dass er seinen Alltag pedantisch geregelt hat, dass in ihm kein Platz für etwas Unvorhergesehenes ist. Wie ein Stillleben – nature morte – arrangiert er sein Frühstück. Der Tisch ist nicht der Ort, an dem Kommunikation stattfindet, sondern er hält die daran Sitzenden auf Distanz. Auf einem niedrigen Hocker müssen seine Kunden wie Bittsteller vor ihm Platz nehmen. Durch seine Gestik drückt er aus, dass er zu seinem Gegenüber keinen Kontakt wünscht. Er verweigert den Handschlag, öffnet die Tür, wenn die Kunden ins Erzählen kommen. Wenn die Situation Nähe, Zuwendung verlangt, verkrampft er sich: Bei der von Sofia für ihn veranstalteten Geburtstagsfeier gibt es keine Geste des Dankes, steif, mit durchgedrücktem Rücken sitzt er am Tisch, das Baby hält er im Arm wie etwas Fremdes. Sein Gesicht spiegelt keine Emotionen wider. Statisch ist die Kamera immer wieder auf seinen Blick in den Spiegel gerichtet. Keine Regung in seinem Gesicht, er sieht sich verzerrt im Spiegel.

Sofias Einsamkeit wird durch die intimen Szenen in ihrer Wohnung beleuchtet. Aber während sich Clementes Öffnung erst gegen Ende des Films andeutet, ist Sofia von Anfang an der öffentliche und der private Raum  zugeordnet. Sie will ja heraus aus ihrer Einsamkeit. Der Film wechselt zwischen privaten Bildern ihrer Frömmigkeit und der Darstellung ihrer Teilnahme an den großen öffentlichen Prozessionen. Wie einsam die beiden auch trotz ihres Zusammenlebens bleiben, das fängt der Film in unterschiedlichen Situationen in Clementes Wohnung ein: gegenseitiges Belauschen und Beobachten, oder er sitzt auf seinem Sofa, im Unterhemd, ganz privat, ohne Rücksicht auf sie, ihr den Rücken zuwendend, schneidet er seine Fußnägel, während sie auf der Kante des Sofas sitzt, aufrecht in ihrem lila Kleid und ihn in ein Gespräch zu verwickeln sucht.

Auch Don Fico ist einsam. Er hat sich an eine Partnerin gebunden, die im Rollstuhl sitzt, deren Augen und Lippen aufgrund ihrer Krankheit geschlossen bleiben. In einer der wenigen Totalen des Films schiebt Don Fico ihren Rollstuhl klein und allein auf einer leeren Straße, während auf der anderen Straßenseite der Verkehr mehrspurig ihm entgegenrollt.

Das Thema des Geldes bleibt durch den Film hindurch gegenwärtig, da die Hauptperson des Films ihr Leben ökonomisch definiert. Clementes Verhältnis zu Menschen ist durch den Tausch von Leistung gegen Geld bestimmt. Darum muss er das Baby, das eines Nachts in seine Wohnung geschmuggelt wird, so schnell wie möglich wieder loswerden, da es diese funktionierende Ordnung gefährdet. Die Zirkulation des Geldes wird im Film durch Clementes berufliche und private Interaktionen veranschaulicht. Aber auch die Störung des Geldflusses hebt der Film in der Variation wiederkehrender Szenen hervor: Clemente versucht mehrmals vergeblich den falschen Geldschein, mit dem er betrogen wurde, wieder in die Geldzirkulation zurückzuführen. Er beschädigt damit seine Glaubwürdigkeit als Pfandleiher. Als er schließlich den falschen Geldschein zerreißt, kann dies ein symbolischer Hinweis sein, dass er sein Leben nicht mehr allein den Gesetzen der Ökonomie unterwirft.

Mit den fast statischen Interieur-Bildern kontrastieren die Bilder von den Prozessionen. Die Bevölkerung Limas folgt, in Lila gekleidet, dem Bild des „Señor de los Milagros“. Massenszenen, ritueller Prunk, Volksfrömmigkeit. Diese Bilder sind der Welt Sofias zugeordnet, die für ihr Leben ein Wunder durch den Herrn der Wunder erhofft. Durch diese Bilder wird auch der Bezug zum Titel hergestellt, der Film spielt in Lima im Oktober, aber sonst bleibt die zeitliche Verortung des Filmes unbestimmt.  Er könnte in der Gegenwart oder auch in einer nicht näher fixierten Vergangenheit spielen. Die Komödie über Geld und Einsamkeit entfaltet sich vor einem grauen sozialen Hintergrund. Beherrschend sind Grau- und Brauntöne. Die Regisseure betonen die Farbigkeit ihres Films, die sie sorgfältig „in Korrespondenz mit jedem der Schauspieler erarbeitet haben.“ Aus ihrem grauen Alltag heraus sucht Sofia Zuflucht in der Religion und mit ihr Tausende von Limeños.

Der Gott der Wunder

Der Titel des Films, im Orginal „Octubre“ bezieht sich auf jenen „purpurnen Monat“ in Lima, der Hauptstadt Perus, in dem sich die Menschen dort ganz in Lila kleiden, um an der Prozession des „Señor de los Milagros“  (Gott der Wunder) teilzunehmen. Diese Prozession hat eine lange Geschichte. Die Bewohner Limas folgen dem „Cristo moreno“, dem schwarzen Christus, dessen Heiligenbild, der Legende nach, noch aus der Kolonialzeit stammt. Ein schwarzer Sklave habe dieses Bild an die  Mauer eines halbverfallenen Hauses gemalt. Trotz zweier schwerer Erdbeben und mehrfacher Versuche, es zu entfernen,  ist das Bild unversehrt erhalten geblieben. Die Verehrung des Bildes wuchs über die Jahre, bis die Mauer zum Wallfahrtsort wurde. Die Bevölkerung äußerte den Wunsch, man möge ein Bildnis in Öl herstellen und anschließend durch die Straßen der Stadt tragen, so dass es diese  in Zukunft genauso beschütze wie zuvor die Mauer. Im Jahr 1687 fand zum ersten Mal die Prozession für den Gott der Wunder statt, bei der ein Abbild des schwarzen Christus  auf einer 2000 kg schweren Tragbahre von Mitgliedern der Bruderschaft  des „Señor de los Milagros“ durch die Stadt getragen wird. Den 40 Trägern voran schreiten zwei weitere der Bruderschaft zugehörige Gruppen. Zum einen die 75 Sahumadoras, die Menge in Weihrauch hüllend. Zum andern die Cantoras, Sängerinnen traditioneller Kirchenlieder. Den Abschluss bilden volkstümliche Musikgruppen.

Die 24-stündige Prozession  für den Gott der Wunder ist eines der bedeutendsten  religiösen Rituale Lateinamerikas, ganz Lima nimmt an ihr teil, unabhängig von sozialem Status und Hautfarbe. Sie ist Ausdruck religiöser Verehrung und ebenso Ausdruck der Liebe der Bürger von Lima zu ihrer Stadt.

Über das Wunder

Der Gott der Wunder tut Wunder, und zwar im Oktober, wenn die Leute in Lima sich purpurn kleiden, den alten Brauch achten, den Gott der Wunder mit süßen Turrones füttern. Wenn die Menge, in Weihrauch gehüllt, bestimmte Lieder singt, dann tut er Wunder. Aber was ist ein Wunder?

Im Glauben der Völker sind Wunder Vorgänge, in denen sich göttliche Macht und göttliches Handeln offenbart, gegen alle Regeln der Naturgesetze. Wunder sind eben Wunder. Wunder widersprechen den Naturgesetzen, nicht aber den Erfahrungen der Menschen. Viele Menschen haben Wunder erlebt oder sie wissen von Wundern.

Wunder kann man sich nicht verdienen, kann man nicht kaufen. Sie werden immer geschenkt. Sie brechen aus einer anderen Welt in die unsere hinein. Gott schenkt einem etwas, er gibt, ohne dass er dafür eine Gegenleistung verlangt. Der Mensch hofft auf Wunder, aber erzwingen kann er sie nicht.

Im Film hofft Sofia auf Wunder. Sie bäckt dem Gott die süßen Nougatstücke, sie betet zu ihm, hoffend auf ein Wunder, dass endlich die heiß ersehnte Liebe ihr Leben erfüllen möchte. Objekt ihrer stillen Begierde ist Clemente, ihr Nachbar. Der aber glaubt nicht an Wunder. Er ist geradezu Wunder-resistent. Er hat sein Leben pedantisch durchorganisiert, führt Buch über Einnahmen und Ausgaben. Er schenkt niemand etwas. Er gibt nichts, es sei denn im Tausch gegen etwas anderes. Er ist der Antipode zum Gott der Wunder. Bis er, o Wunder, sexuell versagt und den Satz der Prostituierten, „man muss auch Veränderungen zulassen“, an sich rankommen lässt. Und wieder, o Wunder, Clemente geht daraufhin zur Apothekerin, zahlt seine Schulden zurück und kauft für Sofia ein Parfüm, das er schön einpacken lässt. Und dann geht er nach Hause, findet dieses ohne Baby, ohne Sofia und, o Wunder, er vermisst sie. Er vermisst die, die er die ganze Zeit hat loswerden wollen. Und da die Vermissten nicht zurückkommen, geht er zur Prozession für den Gott der Wunder, und diesen im Rücken, schiebt er sich gegen den Strom der Leute durch die Menge und vielleicht hofft er auf das Wunder, Sofia zu finden. Vielleicht. Der Film lässt offen, ob dieses Wunder geschieht.  Aber in jedem Fall ist aus dem verschlossenen Clemente, der kaum ein Wort über das Berufliche hinaus sagt, ein Mensch geworden, der seine Einsamkeit durchbricht und Annäherung sucht.

Wunder lassen sich nicht erklären. Wunder kann man nur mit Hilfe anderer Wundergeschichten erzählen.

Alle Religionen wollen dem Wunder auf die Sprünge helfen, durch Prozessionen, Gelübde, Opfergaben. Aber es hilft nichts. Wunder sind Geschenke Gottes. Für die traditionelle katholische Kirche haben Wunder fundamentale Bedeutung. Wunder sind Offenbarungen, in denen sich Gott den Menschen mitteilt. Auch für die Protestanten sind Wunder Erweise göttlichen Handelns. Aber das Wunder hat keine Beweiskraft für den Glauben, es ist nicht Gegenstand des Glaubens, sondern Herausforderung.

Sofia glaubt. Sie erkennt sogar im Gewinn für die Lösung eines Kreuzworträtsels das Wirken des Gottes der Wunder. Don Fico glaubt an die Liebe zu seiner schwerkranken Partnerin Rosa und, o Wunder, schafft es, sie aus dem Krankenhaus zu befreien. Und Clemente? Er beginnt das Findelkind als Geschenk zu erkennen und Sofia vielleicht als seine Frau. Sind das nicht Wunder?

Didaktische Hinweise – Fragen und Vorschläge zum Gespräch

Der Titel des Films ist: „Im Oktober werden Wunder wahr“

  • Um welche Wunder im Film könnte es sich handeln?
  • Was ist ein Wunder?

Clemente ist der Antipode zum Gott der Wunder.

  • Inwiefern?
  • Welche Lebensmaxime leitet Clemente?

Sofia betet zum Gott der Wunder.

  • Was erbittet sie?
  • Wird ihr Gebet erhört?

Clemente und Sofia sind die Protagonisten des Films.

  • Worin gleichen sich ihre Lebensumstände, worin unterscheiden sie sich?
  • Wie ist ihre Beziehung zueinander?
  • Wie entwickelt sich ihr Verhältnis?

„Man muss auch Veränderungen zulassen“, sagt eine Prostituierte zu Clemente.

  • Lässt sich Clemente auf Veränderungen ein?
  • Wenn ja, auf welche?

Warum untersucht der Film in mehreren Sequenzen, welchen Weg der falsche Geldschein nimmt?

Warum versucht Clemente immer wieder, das Falschgeld in Umlauf zu bringen? Warum zerreißt er es schließlich?

Die Lebensumstände der Nebenfiguren Don Fico und Rosa  spiegeln die soziale und ökonomische Situation im heutigen Peru.

  • Inwiefern?
  • Wie versucht sich Don Fico zu helfen?

Die Filmemacher nennen ihren Film eine Komödie. Eine Komödie soll das Publikum zum Lachen bringen.

  • Haben Sie gelacht? An welcher Stelle des Films?

Eine Komödie will ernste, allgemein menschliche Themen komisch behandeln. Dadurch entsteht Distanz.

  • Um welche Themen im Film handelt es sich?

Was ist Ihnen an der Filmsprache aufgefallen?

  • Charakterisierung der Personen
  • Farbgebung
  • Kameraführung
  • Variierende Wiederholungen von Szenen
  • Musik

Aus einem Interview mit den Regisseuren Diego und Daniel Vega

Warum heißt der Film „Im Oktober werden Wunder wahr“ und wie seid Ihr auf die Idee zu diesem Projekt gekommen?

Der Titel des Films ergibt sich daraus, dass der Film im Monat Oktober spielt, der in Lima eine sehr wichtige religiöse und historische Bedeutung hat. Die Idee entstand zunächst einmal völlig unbewusst. Wir schrieben verschiedene Versionen des Drehbuchs, die sich schon auf den „purpurnen Monat“ bezogen, aber ohne vorzuhaben, diese Tradition auch wirklich mit einzubeziehen. Dennoch passierte es einfach, dass das Drehbuch plötzlich durchzogen war mit Motiven des Wunder-Gottes, mit Kerzen, religiösen Treuebekenntnissen und religiösen Bezügen in den Dialogen. Was als eher chorische Geschichte zahlreicher Figuren begann, wurde langsam zur Geschichte der gläubigen Sofia, die in das Leben Clementes stolpert, dem örtlichen Pfandleiher.

„Im Oktober werden Wunder wahr“ ist eine Komödie mit einer sehr speziellen Art von Humor. Wie würdet Ihr diesen Humor beschreiben?

Wir haben von Anfang an versucht, mit schwarzem Humor an diese Geschichte heranzugehen und die absurden Momente herauszuarbeiten. Der Film erzählt von Einsamkeit, auch von Verzweiflung, von der Unfähigkeit, sich auf eine gute Art zu anderen ins Verhältnis zu setzen. Und wir denken, dass das alles schon schlimm genug ist – auch wenn man es nicht als Melodram erzählt.

Der Film hat auch eine besondere Bildlichkeit. Jede Einstellung hat etwas von einem Gemälde. Wie habt Ihr das erarbeitet?

Daniel ist besessen von Symmetrie. Während der Dreharbeiten hat Daniel ständig einen Stuhl oder andere Objekte um einen Millimeter nach links oder rechts gerückt. Ich habe erst allmählich begriffen, dass er versucht hat, in dieser Geometrie der Einstellung eine Schönheit zu finden, die diese auch harte und lakonische Geschichte erzählen kann. Ich würde gerne noch die Farbigkeit betonen, denn das war etwas, das wir in Korrespondenz mit jedem der Schauspieler erarbeitet haben. Clemente zum Beispiel wird immer begleitet von einer chromatischen Traurigkeit, die seinen Charakter aber bereichert.

Im Film geht es um eine sehr religiöse Frau und gleichzeitig aber auch um eine sehr starke Sinnlichkeit. In welchem Verhältnis seht ihr religiöse Treue und erotisches Verlangen?

Sofia ist eine einsame Frau. Auch Clemente ist allein und sein Verhältnis zu anderen Menschen ist ökonomisch definiert – zu seinen Kunden, die ihn besuchen und zu den Prostituierten, die er besucht. Jeder geht auf seine eigene Art mit Verlangen um und auf eine bestimmte Weise leben sie ein repressives Leben. Sofias Verlangen ist schon vor langer Zeit in Verzweiflung umgeschlagen und an dieser Stelle kommt dann die Religion ins Spiel.

Können wir die beiden Protagonisten als Gegenmodelle betrachten?

Das glaube ich nicht. Sie sind sich sehr ähnlich, aber Clemente – wie viele Männer – könnte ewig so weitermachen, bis er eines Tages stirbt, obwohl er leidet und obwohl er nicht glücklich ist. Sofia könnte das nicht. Sie geht los und sucht nach einer Veränderung, sie zieht es vor, den Dingen ins Gesicht zu schauen und Risiken einzugehen.

Warum muss es ausgerechnet Turrón, diese peruanische Art des Nougatkonfekts sein, das Sofia bäckt? Und wie hängen die Aktivitäten des Pfandleihers damit zusammen?

Turrón steht für die Süße im Oktober in Lima. Es hat seine Wurzel in einer Legende aus dem 18. Jahrhundert. Turrón war eine Opfergabe an einen Gott. Heute bekommt man das ganze Jahr über Turrón, aber besonders vielfältig und reichhaltig eben im Oktober. Der Pfandleiher ist der Gegenpart zum Gott der Wunder. Denn der Pfandleiher gibt nichts, es sei denn im Tausch gegen etwas anders. Aber der Gott der Wunder gilt als einer, der gibt, ohne etwas Materielles dafür zu fordern.

Über die Filmemacher Daniel und Diego Vega

Daniel Vega, geboren 1973 in Lima/Peru, Studium der audiovisuellen Kommunikation und Unternehmensführung.
Diego Vega, geboren 1974 in Lima/Peru, Studium der Wirtschaftswissenschaften, danach Film mit Schwerpunkt Drehbuch an der EICTV in Kuba und an der Escuela de Cinema y Artes de Catalunya in Barcelona/Spanien. Erste Erfolge als Drehbuchautor beim 13. Filmfest in Lima, 2009.
Die Brüder Vega begannen mit dem preisgekrönten Kurzfilm „Inside Down Basement“, 2008. „Im Oktober werden Wunder wahr“ ist ihr erster langer Spielfilm, 2010,

Preise

Jury-Preis in der Reihe Un Certain  Regard der Internationalen Filmfestspiele Cannes, 2010.

Presse

„Wieder so eine kleine, feine südamerikanische Entdeckung.“ epd Film
„Ein starker bittersüßer Film“ Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Leise lakonisch, skurril, komisch, tief menschlich“ Die Welt

Medienhinweise

  • Eine Perle Ewigkeit (La teta asustada)
    Claudia Llosa, Peru, Spanien, 2009, 100 Min., Spielfilm
    Katalog EZEF
  • Gigante
    Adrián Biniez, Spanien, Deutschland, Argentinien, Uruguay, 2009, 84 Min., Spielfilm
    Katalog EZEF

AutorInnen: Brigitte Pfäfflin, Georg Friedrich Pfäfflin
Juli 2011