Arbeitshilfe

Morgentau

Film: 

Teza
Spielfilm von Haile Gerima
Deutschland, Frankreich, USA 2008, 140 Minuten, OmU

Inhalt (kurz)

„Morgentau“ ist ein drei Jahrzehnte umspannender, in Deutschland und Äthiopien spielendes Epos. Es handelt von Idealen, Exil, der verlorenen Kindheit und dem Recht auf Glück.
Hauptfigur ist Anberber, der in den 1970er Jahren Medizin in Köln studiert und später als Labormediziner in Addis Abeba arbeitet. Der Wechsel vom feudalen Regime des Kaisers Haile Selassie zur Volksrepublik gibt dem in Deutschland Studierenden das Ziel, nach Hause zurückzukehren und am Aufbau des Landes mitzuarbeiten.
Vor Ort aber werden Anberber und seine Freunde bespitzelt und bedroht, sein bester Freund Tesfaye gar Opfer des „roten Terrors“. Anberber kann sich in allerletzter Minute nach Ostdeutschland absetzen, wo er den Mauerfall erlebt. In Deutschland wird er wenig später Opfer eines rassistischen Übergriffs. Schwer verletzt halluziniert er von zuhause. Diese Bilder sind der Beginn des retrospektiv erzählten Geschehens. Nach über zwanzig Jahren Abwesenheit besucht Anberber seine Mutter Tata Tadfe. Er möchte sich von den Strapazen der Heimatlosigkeit, dem Verlust aller Ideale und den Angriffen auf seine Person erholen. Doch das Dorf ist nicht mehr dasselbe; es schwelt abermals ein bewaffneter Konflikt, und seine lange Abwesenheit wie sein Status als Gebildeter erzeugen Neid und Missgunst. Anberber muss einsehen, dass ihm seine wissenschaftliche und politische Bildung hier nichts nützt. Schlussendlich entdeckt er das Glück im Kleinen. Er wird der neue Dorfschullehrer und bekommt mit seiner Freundin Azanu ein Kind, eine Tochter, die Tesfaye heißt, „Hoffnung“.

Inhalt (lang)

Anberber studiert in Köln Medizin, als Haile Selassie, der diktatorisch regierende Kaiser von Äthiopien, 1974 gestürzt wird. Wie viele in den 1970er Jahren sind er und seine äthiopischen Kommilitonen politisch engagiert. Sie sind davon beseelt, mit ihren erworbenen Kenntnissen zur Entwicklung ihres Landes beitragen zu können. Sein bester Freund Tesfaye überzeugt Anberber, ihm nach Äthiopien zu folgen. Beide träumen davon, in Äthiopien alle Krankheiten zu besiegen. Für dieses Ziel lassen sie ihr persönliches Glück zurück, Tesfaye seine Frau Gabi und seinen Sohn Teodross, Anberber seine Freundin Cassandra.
Einmal in Äthiopien angekommen, ist die Euphorie schnell verflogen. Aus sozialistischen Idealen sind doktrinäre Grundsätze geworden. Doch der Derg, die Militärjunta unter Mengistu Haile Mariam, betrachtet die im Westen ausgebildeten Rückkehrer wie Gegner im Klassenkampf. Das Regime macht regelrecht Jagd auf Anberber und seine Freunde. Sie werden bespitzelt und ihre Arbeit argwöhnisch beobachtet. Die Lage spitzt sich zu. Tesfaye wird Opfer des Mobs, und Anberber verlässt in letzter Minute das Land Richtung Ostdeutschland. Dort erlebt er den Mauerfall, besucht Freunde, die sich in ihrem Exildasein eingerichtet haben. So möchte er nicht enden. Alsbald wird er Opfer eines rassistischen Überfalls, den er sehr schwer verletzt überlebt. Die Situation seines Beinahetodes provoziert Halluzinationen, vernebelte Bilder aus seiner Kindheit, die sich mit Fahrten durch Krankenhausflure vermischen.
Anberber ist doppelt entwurzelt, heimatlos: das große Äthiopien und seine Wahlheimat Deutschland haben ihn verworfen. Es ist der Zeitpunkt, einen lang gehegten Wunsch wahrzumachen, nämlich seine alte Mutter zu besuchen. Er ist ein gebrochener Mann, geht am Stock, beherrscht Amharisch nicht mehr so recht, es quälen ihn Albträume, aus denen er mit Schreikrämpfen erwacht. Er hat Visionen, sieht sich als Kind in der jetzigen Bürgerkriegssituation 1990 sterben. Anberbers Leben ist vollkommen durcheinander. Die erhoffte Ruhe gibt es nur allzu selten – in den goldbraunen Morgenstunden vielleicht –; das idyllische Dorf seiner Kindheit existiert nicht mehr, und um ihn herum schwelt der Konflikt zwischen der neuen Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker und den alten Militär-Funktionären und deren Armee-Überresten – zum Leidwesen der Bevölkerung. Wir erleben mit ihm die Grausamkeit eines verborgenen Krieges, der Jungen von ihren Familien raubt, sie in den Kampf schickt, um sie verletzt oder tot liegen zu lassen. Wir müssen mit ansehen, wie Mütter ihre Kinder vor dem Zugriff der Soldaten zu schützen versuchen und dabei scheitern.
Bei aller Grausamkeit und Verzweiflung kommt der Film zu einem überraschend guten Ende. Anberber vermag zwar nicht die Welt von Krankheiten und Kriegen zu heilen, aber es gelingt ihm, sich selbst ein klein wenig mit ihr zu versöhnen, die Strenge seiner unerreichten Ideale abzustreifen. Zu diesem schleichenden Glück im Stillen tragen die Frauen um ihn herum maßgeblich bei: die Mutter mit ihrer grenzenlosen Zuneigung für den verloren geglaubten Sohn (auch wenn sie nicht versteht, was mit ihm los ist) und seine Freundin Azanu, Gewaltopfer ihres Mannes und Kindsmörderin. Sie zeigt ihm, dass man seine Würde trotz großer Verletzungen nicht verlieren muss. Anberber hat jedoch selbst eine besondere Stärke. Sie schlummert in der Art, wie er andere zu umarmen weiß. Er hält Freunde, die er liebt, und Fremde, die er tröstet, fest umschlungen und gibt ihnen in diesen Momenten Halt, ohne recht zu begreifen, dass auch dies Medizin ist. Mit den Berührungen Azanus heilt auch Anberber. Er fährt hinaus zu ihrer Insel und kommt allmählich mit ihr zur Ruhe. Er beginnt sich für die Jungen zu interessieren, die sich in der so genannten Höhle des Drachen vor den Militärs verstecken und die Namen der gestorbenen Freunde auf die Wände schreiben, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. In dieser Höhle wird Azanu ihre gemeinsame Tochter mit dem Namen Tesfaye, „Hoffnung“ auf Amharisch, zur Welt bringen.
Als der Dorflehrer verschwindet, übernimmt Anberber diese Aufgabe. Jetzt scheint er halbwegs angekommen zu sein.

Würdigung und Kritik

„Morgentau“ spielt in Deutschland und Äthiopien und untersucht das Gefühl des Fremdseins und der Machtlosigkeit gebildeter Afrikaner zuhause wie im Ausland und ihre unstillbare Sehnsucht nach Zuhause.
Die Geschichte des jungen Medizinstudenten führt exemplarisch vor Augen, was sich die Generation junger Menschen nach 1968 weltweit auf die Fahnen schrieb: die alten, maroden und unterdrückerischen Regimes zu beseitigen und eine neue, gerechtere Welt aufzubauen. Doch der Plan geht schief, die Ideale verwandeln sich in Dogmen und führen zu neuen gewaltsamen und unterdrückerischen Regimes. Schließlich ist nicht mehr nachvollziehbar, wer wen aus welchen Gründen bekämpft. Unter diesen Umständen verliert die im Westen erlangte Bildung und berufliche Kompetenz ihren Sinn. Was nützt es Labormedizin studiert zu haben, wenn es kein Labor gibt, was die Bücher von Marx und Lenin, wenn Kinder vor den eigenen Augen exekutiert werden? Der Film fragt, welche Art von Beziehung zu seinem Herkunftsland ein engagiert denkender Mensch angesichts der unausweichlichen Kräfte der Geschichte unterhalten kann. Die komplex verschachtelte Struktur von Morgentau mit ihren Traumbildern und Visionen spiegelt die Komplexität dieser Situation.
Anberber verliert im Laufe der sich entspinnenden Chronik seines aktiven Lebens jeden Halt, jede Versicherung, zugehörig und erwünscht zu sein. Er ist noch jung, aber wir sehen einen gebrochenen humpelnden Mann ohne Ziel, der halluziniert und mit Gespenstern aus der Vergangenheit spricht.
Seine gewaltsamen Erlebnisse in Addis Abeba mit dem „roten Terror“ und in Deutschland mit Nazi-Schlägern waren traumatisierend. Nur allmählich sickern ihm Bilder aus der Vergangenheit ins Bewusstsein. Er begreift langsam, was mit seinem Bein geschah, das er verlor, mit seiner schwarzen deutschen Freundin Cassandra, seiner Arbeit in Addis, seinen Freunden.
Der direkte Stil und Realismus wechselt mit fulminanten Landschafts- und Traumbildern, die den Zuschauer an der Schönheit der äthiopischen Landschaften, der Grausamkeit des Krieges, aber auch an der inneren Krise des Protagonisten teilhaben lassen. In den in Äthiopien gedrehten Passagen vermitteln sich eine große Sehnsucht zum Ort und Liebe zum Licht (um dieses weiche Licht zu bekommen, wurde von morgens 4 bis um 11 Uhr und später am Nachmittag gedreht), die sehr sicher inszeniert sind. Allein die in Deutschland gedrehten Szenen in Anberbers WG und an der Uni entbehren dieser Getriebenheit, Sehnsucht und Sicherheit und wirken flach. Die Dialoge, in denen es um die deutsche Gesellschaft und ihre rassistische Grunddisposition geht, klingen wie aufgesagte Diskurssprechblasen, nicht aber wie glaubhafte Auseinandersetzungen. Hier funktioniert die Übertragung eines „Politics of Race“-Diskurses der USA (den der Regisseur aus eigener Anschauung kennt) auf Deutschland nicht, sondern wirkt ungeschickt und befremdlich. Die interessante Auseinandersetzung zwischen den Freundinnen Gabi und Cassandra über die zu erwartenden Probleme für Kinder aus afrikanisch-deutschen Beziehungen wiederum wird jäh abgebrochen und tritt hinter die Abtreibungsfrage zurück. Gabi wird ihr Kind behalten, verliert aber ihren Mann Tesfaye; die schwarze deutsche Cassandra entscheidet sich ohne Anberbers Wissen für den Schwangerschaftsabbruch, weil sie ihrem Kind eine Wiederholung ihres eigenen Schicksals ersparen möchte. Der strukturelle Rassismus wird als Abbruchsgrund genannt. Er zeigt die Dimensionen der Selbstzerstörung und des Selbsthasses dieser Frauenfigur. Gegen die sehr schematisch und theatral inszenierte deutsche Wirklichkeit steht allein Gabis Sohn Teodross, der gehofft hatte, sein Vater würde ihn aus dem deutschen Albtraum herausholen. Er setzt das Hasspotenzial seines Umfelds kreativ um, schreibt „wie Puschkin“ und tanzt, als gäbe es kein Morgen.
“Morgentau“ zeichnet den Weg der Genesung eines vollkommen durcheinandergeratenen Mannes hin zur Wiedererlangung der eigenen Kräfte. Anberber entwickelt sich vom exemplarischen Bildungsmigranten und „Mann ohne Land“ zuerst in einen Wartenden, der Schmerz und Verlust durchlebt. Er tut es manchmal stoisch, manchmal mit etwas zu viel Selbstmitleid. Doch dann verliert er die Selbstbezogenheit und beginnt, die Welt und den unwiederbringlich veränderten Ort seiner Kindheit neu zu sehen. Eine eindrückliche Eingangsszene zeigt Kinder und Jugendliche ums Feuer herumsitzen. Sie spielen Enkokilish, ein Ratespiel. „Ich sah es, als es vorbei war. Als ich zurückkam, war es weg“, sagt einer. Die übrigen Kinder versuchen zu raten, wovon er spricht. Regen? Liebe? Leben? Kindheit? Die Antwort lautet „Teza“, Tau oder Kindheit.
Wo ist zuhause? Der Film sagt, es ist der verlorene Ort der Kindheit, deren Dimensionen im Inneren gespeichert werden. Dieses Innere breitet Morgentau aus und macht es zum Motor der Wiedererlangung der eigenen Zeit und Geschichte. Der Verlust von Heimat, Zielen und Idealen kann nicht wiedergutgemacht werden; doch die Erinnerung an die Kindheit birgt versöhnliche Kräfte. Die Erinnerung an sie bindet das jetzige Dasein zurück an den Ausgangspunkt des Lebens und macht den Weg nachvollziehbar, den man gegangen ist.
"Morgentau" handelt also von der Notwendigkeit, sich zu erinnern und Geschichte zu vergegenwärtigen, um zu begreifen, wo man heute steht. Der Film ergreift hier Partei für diejenigen, über die nichts in den Schulbüchern steht und deren Leben in der großen Geschichte nichts wert ist, die aber die zahlreichen Opfer aller schwelenden Konflikte sind. Das Recht, die eigene Vergangenheit zu kennen und ihrer zu gedenken, ist im Kontext schwarzer und insbesondere afrikanischer und äthiopischer Geschichte von besonderer Dringlichkeit. Denn es fehlt an Medien, Filmen und Kontexten, die die Geschehnisse aus der gelebten Perspektive darlegen und zur Diskussion stellen. Anberber, gespielt von einem jungen in den USA lebenden Schauspieler äthiopischer Herkunft (Äthiopier werden seinen „Ausländerstatus“ sofort am Akzent erkennen), konfrontiert damit die äthiopische Diaspora mit dem Leben „zuhause“, an deren Realität der Film eine Rückbindung und Befragung der eigenen Geschichte ermöglicht.
Anberber gelingt es, sein Erinnerungsvermögen aus der Amnesie zu entwirren und schrittweise die Ereignisse in seinem Leben zu rekonstruieren. Damit gelangt er zu einer Chronik seines Lebens und der Geschichte seines Landes, erlangt aber auch die Fähigkeit, die Schicksale und Geschichte anderer zu sehen. Dachte er zuerst, Urlaub von der Geschichte zu machen und endlich zur Ruhe zu kommen, so setzen die Auseinandersetzung mit seiner Kindheit und Geschichte ihm zuerst zu und dann Kräfte frei. Hier finden verschiedene Praktiken der Kur Anwendung. Während Anberbers Mutter alle Hoffnung in die Wirkung des heiligen Wassers setzt – eine Schockbehandlung mit eiskaltem Wasser, die tatsächlich zu den ersten Erinnerungen an Deutschland führt –, holt Anberber Rat bei dem orthodoxen Priester, der die Jugendlichen in der Drachenhöhle betreut. Es gibt eine wunderbare Szene, in der der Priester in alttestamentarisch wirkendem Ornat Anberbers Traum deutet. Der sitzt in einem tönernen Getreidespeicher und versucht vergeblich, Löcher mit herausgerissenen Buchseiten zu stopfen. Die Analyse des Traums besagt, dass das Wissen aus Büchern hier leider überhaupt nichts nützt. Stattdessen wird Anberber mit dem Wissen dieses alten Mannes über die Drachenhöhle und den sich hier versteckenden Jugendlichen konfrontiert, das ein gelebtes, kein nachgeahmtes Wissen ist. Es wird in dieser Szene ebenfalls gezeigt, dass traditioneller Aufzug und analytisches Denken keine Gegensätze bilden, sondern vielmehr unterschieden werden muss zwischen einer konservativen und häufig bigotten Haltung vieler Dorfbewohner und einer auf die menschlichen Bedürfnisse ausgerichteten. Die eine führt in den Argwohn und die Wahrung verkrusteter, menschenverachtender Vorstellungen (Anberber soll zum Beispiel heiraten, weil es undenkbar erscheint, dass ein Mann in seinem Alter unverheiratet ist, und es soll ausgerechnet ein junges Mädchen sein). Die andere ergibt sich im Austausch auf gleicher Augenhöhe. Anberbers Weg führt letztendlich dazu, Position zu beziehen jenseits ideologischer und normativer Maximen und ohne daraus ein progressives Programm zu machen. Die Musik von Vijaj Ijer und Jorga Mesfin – ein Mix aus ineinander geschobenen Sprechgesängen und Jazzsequenzen –, tut das ihre dazu, den Protagonisten und die Zuschauer aus dem beschränkenden Gegensatzdenken von „Tradition“ gegen „Moderne“, afrikanische gegen europäische Lebensweise, Heimat gegen Heimatlosigkeit, Gut gegen Böse etc. zu entlassen und diese Dinge spezifisch, komplex, ineinander verwoben und vor allen Dingen aus der Perspektive des individuell Machbaren zu betrachten. Das ist die große Geste dieses Films.

Geschichte Äthiopiens

Äthiopien ist einer der ältesten, heute noch bestehenden Staaten der Welt. Es ist ein Vielvölkerstaat, Amtssprache ist Amharisch. Die wichtigste Glaubensgemeinschaft bilden die äthiopisch-orthodoxen Christen, eine der ältesten Formen des Christentums weltweit
Das alte Kaiserreich Abessinien reichte bis ins 9. Jahrhundert zurück. Seit dem 13. Jahrhundert hat Äthiopien erwiesene Kontakte zu Europa. Das Reich zerfällt im Laufe der Jahrhunderte in verschiedene unabhängige Fürstentümer.
Die Widersetzung gegen türkische und englische Kolonisierungsversuche im 19. Jahrhundert führt unter Kaiser Tewodros II (1818-1868) zur Reichseinigung. Menelik II (1889-1913) gründet das moderne Äthiopien; er widersetzt sich 1886 auch erfolgreich dem Versuch Italiens, Äthiopien zu kolonisieren, gleichwohl es während der Berlin Konferenz 1884 dem italienischen Einflussgebiet zugesprochen worden war.
Äthiopien ist unabhängiges Kaiserreich bis zum erneuten Versuch (des nun faschistischen) Italiens unter Mussolini. Während des Italienisch-Äthiopischen Krieges 1935-1936 wurde das Land in Teilen vorübergehend besetzt. Die italienischen Streitkräfte verübten massive Greueltaten und richteten Konzentrationslager ein. Dennoch konnte Äthiopien niemals kolonisiert werden.
Der von 1930 bis 1974 regierende Kaiser Haile Selassie genoss trotz seiner strengen feudalen Alleinherrschaft den Status, ein Idol der Unabhängigkeit und ein wahrer afrikanischer Herrscher zu sein (er wurde beispielweise von der jamaikanischen Rastafari-Bewegung sehr verehrt).
Dürrekatastrophen und Bauernrevolten schwächen das feudale System von Selassie; Studenten in Addis Abeba schließen sich der Bewegung an, deren Revolution 1974 Selassie stürzt.
1975 wird die Monarchie abgeschafft und Äthiopien zur Sozialistischen Republik. Der Konflikt zwischen beiden Parteien führt zum Bürgerkrieg und zum „roten Terror“ der Derg, der Militärjunta von Mengistu Haile Mariam, dessen sozialistische Diktatur bis 1991 andauert.
1984-85 gerät Äthiopien wegen massiver Hungersnöte, im Gefolge von Missernten und Dürre, in die Schlagzeilen, während die schwelenden Konflikte zwischen verschiedenen marxistischen Gruppen andauern.
1987 Ende der Derg-Herrschaft. Äthiopien erhält eine demokratische Verfassung und nennt sich jetzt Demokratische Volksrepublik.
Seit 1991 erfolgen Demokratisierungsbestrebungen. Mengustu wird Präsident.
1993 wird Eritrea, die einstige italienisch besetzte Provinz, unabhängig.

Didaktische Hinweise – Fragen und Vorschläge zum Gespräch

Anberber ist die Hauptfigur eines komplexen, in Rückblenden montierten Films.

Tragen Sie im Gespräch die wichtigsten Stationen seines Lebens zusammen.

  • Er erlebt Abweisung, Gewalt und Rassismus. Welches sind die Kontexte dieser Erlebnisse, wie werden sie inszeniert?
  • Die Szenen in Deutschland und Äthiopien unterscheiden sich sehr stark voneinander. Versuchen Sie auszumachen, welches die Unterschiede in der Inszenierung der deutschen und der äthiopischen Szenen sind (Ausstattung der Figuren, Typen, Charaktere, Handlungsmotive etc,).
  • Träume und Visionen gehören zu den erzählerischen Mitteln des Films. Welche Sachverhalte und Gefühle werden mit ihnen angesprochen?

Der Titel des Film „Teza“ bedeutet Tau und Kindheit. Die Kindheit hat für den Film wie für den Protagonisten einen zentralen Stellenwert. Ernst Bloch schrieb in seinem Buch Prinzip Hoffnung 1959, Heimat sei „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.

  • Welche Bilder, Szenen und Farben findet der Film für Tau und Kindheit?
  • Worin unterscheidet sich das Kindheitsbild von dem Bild Äthiopiens aus erwachsener Perspektive?
  • Begreift man die Kindheit als Ort der Heimat, so wäre Morgentau ein „Heimatfilm“, jedoch ohne nostalgische bzw. romantisierende Überhöhung. Bleibt die Sehnsucht. Welche Kräfte werden mit der Erinnerung an diesen Ort und Zustand frei?
  • Was bedeutet in "Morgentau" Fremdsein? Was und wo ist zuhause? Diskutieren Sie verschiedene Optionen.

Anberber begleiten in allen Lebensabschnitten Frauen, die entscheidend zur Entwicklung der Erzählung beitragen. Mit dem Augenmerk auf diese Nebenfiguren lassen sich die Geschlechter- und Machtverhältnisse deutlicher beschreiben.

  • Welche Frauenfiguren finden Sie in welchen Abschnitten des Films?
  • Mit Tata Tadfe und Azanu werden im dörflichen äthiopischen Kontext Liebe, Mitgefühl und Zuneigung thematisiert. Wie äußern diese Frauen ihre Gefühle? Was können sie ausrichten? Welche Art von Gewalt erfahren sie bzw. haben sie erfahren? Zu welcher Art von Gewalt sind sie selbst bereit? Diskutieren Sie Aspekte und Unterschiede struktureller Gewalt gegen Frauen, der physischen Gewalt im Krieg, der Gewalt gegen Kinder etc., denen Anberber weitgehend als Beobachter beiwohnt.
  • Cassandra und Gabi stehen für die emanzipierte Frau der 1970er Jahre, die selbst über Sex und Kinderwunsch entscheidet. Gleichzeitig sind sie die Verbündeten der Auslandsstudenten. Beide Frauen gehen verschiedene Wege. Welches sind ihre Ängste und Hoffnungen?
  • Die schwarze deutsche Cassandra nennt als Grund für den Schwangerschaftsabbruch den Rassismus in Deutschland. Diskutieren Sie diese Begründung unter dem Aspekt des Selbsthasses und der aussichtslosen Situation aus ihrer Sicht.

Morgentau umspannt über 30 Jahre äthiopischer und deutscher Geschichte, die von der Besetzung der italienischen Faschisten unter Mussolini bis in die 1990er Jahre reicht.

  • Welche historischen Ereignisse werden im Film angesprochen? Wie geht der Film mit ihnen um?
  • Der Student Anberber ist ein Kind seiner Generation. Was bedeutet Bildung, Engagement, Emanzipation, Aktivismus im Kontext der 1970er Jahre? Welche Ideale verfolgt er?
  • Welche historische Phase wird im Film mit dem Mussolini-Denkmal angesprochen (siehe Kasten zur Geschichte Äthiopiens) und welches ist die Bedeutung der Drachenhöhle.

Im Film wird direkt auf die Situation von schwarzen Deutschen in den 1970ern und 1990ern Bezug genommen. Überlegen Sie gemeinsam, was Sie von der Geschichte schwarzer Deutscher wissen und recherchieren Sie aktuelle Positionen (siehe z.B. die Website von „Der braune Mob“; „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“, ISD; ADEFRA e.V. „Schwarze Frauen in Deutschland“ u.a.).

Zum Ende des Films entdeckt Anberber einerseits, dass ihm die großen Ideale nichts nützen, andererseits öffnet er sich dem Leben der Leute um sich herum. Er scheint sich auch nicht mehr mit den Dingen zu befassen, die er nicht ändern kann. Beschreiben Sie den Orientierungswechsel und die Ausrichtung seines Tuns.

Der Regisseur Haile Gerima

Haile Gerima gehört neben Djibril Diop Mambety oder Ousmane Sembène zu den angesehenen afrikanischen Filmemachern der ersten Generation; er lehrt außerdem seit 1975 an der Howard University in Washington D.C Film.
Gerima wurde 1946 in Gondar, im Nordwesten Äthiopiens, als viertes von zehn Kindern geboren, sein Vater war Theaterautor, seine Mutter Lehrerin, seine Großmutter liebte es, Geschichten zu erzählen. Er selbst verfasste bereits in der Schulzeit Stücke. Mit 21 Jahren, 1967, verlässt Gerima Äthiopien, um an der Goodman School of Drama in Chicago Theater zu studieren. Dort erlebt er 1968 die Chicago-Riots. 1970 geht Gerima nach Los Angeles an die UCLA, damals ein Hotspot der Bürgerrechtsbewegung und der Entwicklung eines unabhängigen Black American Cinema. Dort gründet er gemeinsam mit Julie Dash, Larry Clark und Charles Burnett die einflussreiche Los Angeles School of Black Filmmakers (1969-1981) als alternativen Produktionskontext zu Hollywood. Das große Thema der Zeit: Film und soziale Veränderung.
Alle Filme Gerimas erkunden afrikanische bzw. schwarz amerikanische Erzählformen und setzen sich für die Rechte von Schwarzen ein. Gerimas Aktivismus ist nuanciert; pan-afrikanische Züge verdecken weder nationale Interessen (als Äthiopier), noch gehen sie in in die Konstruktion einer übergreifenden schwarzen Identität ein. Nach seinem erfolgreichsten Film Sankofa gründet Gerima 1999 das Sankofa-Buchhandlung-Café- und Kulturzentrum, das sich der Verbreitung afrikanischer und schwarz amerikanischer Kultur verschrieben hat (es finden sogar Filmvorführungen auf dem Parkplatz statt).
Vergleicht man Anberbers Geschichte in "Morgentau" mit der Biographie des Filmemachers, so erschließen sich mehrere Gemeinsamkeiten: beider Herkunft aus Gondar im Nordwesten Äthiopiens und das Auslandsstudium. Wie die Studenten in Morgentau erfährt auch Gerima als Auslandsstudent vom Sturz Haile Selassies. Er dreht 1976 "Mirt Sost Shi Amit" in Äthiopien und verlässt das Land dann so schnell wie möglich. Wie Anberbers Freunde wird auch Gerima von der Derg eingeschüchtert. Auch er kennt das Gefühl überall fremd zu sein, allzu gut. „Ich gehöre einer Generation an, die unbedingt eine bessere Gesellschaft haben und etwas für die armen und unterdrückten Menschen tun wollte, die aber blind wurde und sich verlor und sich gegen ihre eigene Menschlichkeit wendete, so dass sie das Gegenteil dessen wurde, was sie wollte. Dieser Film ist für mich wirklich über diese Verschiebung (displacement), die ein wichtiges Thema für mich persönlich ist.“ (Gerima in New York Times, 29.3.2010)

Durch "Morgentau", so Gerima in einem weiteren Interview, habe er die Möglichkeit gehabt, eine Geschichte über alle Afrikaner zu erzählen, die an Leib und Seele durch unvorhersehbare und komplizierte historische Ereignisse durcheinandergeraten seien. Morgentau ginge aber über das Einzelschicksal hinaus. (Ebony, 11.9.2010) „Es ist der erste Film, in dem ich meine Kindheit erkunde und den Ort, wo ich aufgewachsen bin. Ich kann ihn immer noch riechen, das Essen schmecken. Es ist kein autobiographischer Film, aber ich habe viel von meiner Geschichte und der anderer äthiopischer Intellektueller reingepackt, die mit der Frage konfrontiert sind, was Heimat ist.“ (TAZ, 5.4.2010)

15 Jahre dauerte die Produktionsvorbereitung zu Morgentau. Der Plan, in den USA zu drehen, musste aufgegeben werden. Finanzmittel der EU, aus Frankreich und Deutschland ermöglichten schließlich die Realisierung und führten zum Dreh in Köln.

Filme

1972 HOUR GLASS (Gerimas erster Film handelt von der Bewußtwerdung (Black Consciousness) eines schwarzen Basketballspielers)
1972 CHILD OF RESISTANCE (Dokumentarfilm über Angela Davis, Aktivistin der Black Power)
1976 BUSH MAMA (Spielfilm über die politische Verwandlung einer Frau im Prekariat der 1960er Jahre)
1976 MIRT SOST SHI AMIT / HARVEST: 3,000 YEARS (Spielfilm; eine äthiopische Bauernfamilie versucht in Feudalsystem zu überleben, während Selassies Regime kollabiert)
1978 WILMINGTON 10 – U.S.A. 10,000 (Dokumentarfilm über die „Wilmington 10“, einer Gruppe von Menschenrechtsaktivisten, die 1971 wegen Konspiration verurteilt wurde)
1982 ASHES AND EMBERS (Spielfilm; Schwarze Veteranen kehren aus dem Vietnam-Krieg in die USA und die Hoffnungslosigkeit zurück)
1985 AFTER WINTER: STERLING BROWN (Dokumentarfilm über den schwarz amerikanischen Dichter und Autoren Sterling Allen Brown)
1993 SANKOFA (Spielfilm; Geschichte der Schwarzen in den USA, Deportation aus Afrika, Sklaverei)
1994 IMPERFECT JOURNEY (Dokumentarfilm für die BBC über die Lage in Äthiopien nach Beendigung des „roten Terrors“)
1999 ADWA – AN AFRICAN VICTORY (Dokumentarfilm über die Schlacht bei Adwa 1896 und den Sieg Äthiopiens gegen Italien)
2008 TEZA / MORGENTAU

Auszeichnungen

  • Bestes Drehbuch und Spezialpreis der Jury, 65. Internationales Filmfestival Venedig, 2008
  • Jury-Preis des 18. Internationalen Filmfestivals Innsbruck, 2009
  • Golderner Etalon du Yennenga, FESPACO, Panafrikanisches Filmfestival, Ouagadougou, 2009
  • Dioraphte Preis des Hubert Bals Fond, Rotterdam Film Festival, 2009
  • Golden Tanit, Bester Film, beste Musik, beste Kamera, bestes Drehbuch und bester Nebendarsteller (Abeye Tedla), Film Festival Karthago, 2009
  • Golden Unicorn und bester Spielfilm, internationales Filmfestival Amiens, 2009
  • The Human Value's Award, Thessaloniki Film Festival, 2009
  • Best Composer, Dubai International Film Festival, 2009
  • Official Selection, Toronto Film Festival, 2009

Pressestimmen

„colourfull and imposing“ (The Hollywood Reporter, 2.9.2008)

„It’s the powerfull personal story – of one man’s loss and reconciliation – that carries the viewer along.“ (The Washington Post, 18.9.2009)

„In ‚Teza’ Gerima really was able to capture light and shade, the full majesty of the African landscape, which gives the film a tremendous strength and beauty.“ (Françoise Pfaff, The New York Times, 29.3.2010)

„Gerima’s film stands as a richly expansive portrait of a man caught between untenable exile and the terrible consequences of his homeland’s violent past.“ (The Village Voice, 30.3.2010)

„Einer der eindrücklichsten Filme aus Afrika und ein Film auch über Europa.“ (Walter Ruggle, Trigon)

„It’s all in the eyes. Remember that as you watch. ... an intimate drama showing how the past invades and defines the present.“ (The New York Times, 2.4.2010)

„Few contemporary films burn with the passion and authenticity of Teza“ (The Hollywood Reporter, 6.4.2010)

Literaturhinweise und Links

  • Mbye Cham (1984) "Art and Ideology in the Work of Sembene Ousmane and Haile Gerima", in: Présence Africaine: Revue Culturelle du Monde Noir/Cultural Review of the Negro World, Bd. 129: 1, 79–91.
  • Tama Lynne Hamilton-Wray von Proquest (2011) The Cinema of Haile Gerima, Umi Dissertation Publishing.
  • Paul B. Henze (2000) Layers of Time. A History of Ethiopia, London: Hurst.
  • George Alexander and Janet Hill, Hg. (2003) Why We Make Movies: Black Filmmakers Talk About the Magic of Cinema, New York: Harlem Moon.
  • Mark A. Reid (1993) Redefining Back Film, Berkeley and Los Angeles: University of California Press.
  • Valery Smith (1998) Not just race, not just gender: Black Feminist Readings, London/New York: Routledge.
  • Website zum Film http://www.tezathemovie.com/
  • Interview mit Haile Gerima, BBC http://www.tezathemovie.com/bbc.html
  • Interview mit Haile Gerima, KOJO http://www.tezathemovie.com/kojo.html

Autorin: Marie-Hélène Gutberlet
Redaktion: Bernd Wolpert